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Archivalie – August 2020

Die verschwundenen Grabsteine - Teil 1

Mauer mit 23 Grabplatten auf dem Alten Friedhof

Der Alte Friedhof befand sich in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts in einem erbärmlichen Zustand. Es gab kein Wegenetz, und so mussten Besucher, um ein Grab zu erreichen, ihren Weg über andere Gräber suchen. Auch fehlte dem Friedhof eine Einfriedung, um streunendes Vieh abzuhalten. Und nicht zuletzt wegen der zahlreichen auf Dauer angelegten Erbbegräbnisse war der Friedhof viel zu klein. Viele Familien fanden nur unter großen Schwierigkeiten einen Begräbnisplatz. Nicht selten wurden Gräber zu früh wiederverwendet, sodass bei der Aushebung unverweste Gebeine zum Vorschein kamen. Eine Friedhofskommission gab es nicht. Katholiken, Reformierte und Lutheraner beerdigten hier gleichermaßen ihre Toten, ohne dass es eine gemeinsame Koordination gab. Faktisch verwaltete jede Familie ihren Begräbnisplatz selbst und verkaufte ihn mitunter auch weiter.

Am 12. oder 13. Juli 1821 ließ Amtsassessor Anton Mulert einen am Friedhof gelegenen Grabstein wegschaffen. Er wollte ihn beim Bau seines Hauses (Kivelingstraße 8) verwenden. Doch er wurde erwischt. Bei seiner Aussage berief sich Mulert auf Pastor Beckhaus, einen Sohn des früheren Bürgermeisters. Von ihm habe Mulert den Stein gekauft, und der Abtransport des Steins sei mit Pastor Beckhaus‘ Einwilligung geschehen. Der Maurer Anton Barlow stützte diese Aussage: Beckhaus habe den Stein Mulert überlassen und das Kaufgeld als Geschenk für die Armen bestimmt. Der Polizeikommissar meldete den Fall daraufhin dem reformierten Kirchenrat, und der nahm den Fall sehr ernst. Schließlich gehörten „dergleichen Leichensteine zu dem Kirchhof“ und könnten nicht einfach von jedem, wie er Lust hat, „dem Gottesacker entzogen“ werden.

Der Kirchenrat stellte Pastor Beckhaus zur Rede. Dessen Ruf war ohnehin schon beschädigt. Denn Beckhaus soff. Wegen seines „trunkergebenen Wandels“ und seiner infolgedessen „bis zum höchsten Grad geschwächten Körper- und Geistes-Kräfte“ war er seit einigen Monaten suspendiert. Beckhaus erklärte nun, er habe Mulert tatsächlich einen Grabstein verkauft, allerdings nicht den fraglichen, an dem er auch gar keine Eigentumsrechte hätte, sondern einen ihm gehörigen Stein aus seiner Familie. Zwar habe Mulert ihn mit den Worten, dass dieser ohnehin „ein Anstoß“ sei, um den Stein gebeten, doch habe Beckhaus ihm empfohlen, sich in dieser Frage an den Kirchenrat zu wenden. Darauf habe Mulert jedoch nur erwidert: „Nein, das thue ich nicht, denn auf diese Art bekomme ich den Stein nie.“ Der Kirchenrat leitete den Fall daraufhin an das evangelische Konsistorium weiter. Im November wurde Beckhaus mit gerade 31 Jahren entlassen, im Jahr darauf wurde seine Ehe geschieden. Er zog sich nach Tinholt zurück.

Die Zustände auf dem Alten Friedhof blieben besorgniserregend. 1829 forderten die Pfarrer der drei Gemeinden in Lingen die Regierung auf, „dem allgemeinen Bedürfnis nach Einfriedung und Verschönerung des hiesigen Kirchhofs abzuhelfen“. Die Regierung übertrug diese Aufgabe postwendend dem Lingener Magistrat. Der kaufte auch gemeinsam mit den Landgemeinden 1837/38 Land zur Erweiterung des Friedhofs. Doch erst 1848/49 entstand um Bürgermeister Horkel eine Verwaltungskommission, mit der der Friedhof de facto in städtische Trägerschaft überging. Als der Friedhof schließlich seine Umfassungsmauer erhielt, wurden mehrere, darunter wohl auch viele verwahrloste Grabplatten integriert. Die rote Ziegelsteinmauer hinter dem heutigen Kriegsopfermal enthält insgesamt 23 Grabplatten mit Sterbedaten zwischen 1606 und 1847. Die Familiennamen – Beckhaus, Horkel, van Nes, Huilmann, Raidt, Meiling, Kerkhoff, Cappenberg oder zur Eyck – lesen sich wie ein Who is Who der Lingener Stadtgeschichte. Das hieß jedoch nicht, dass fortan sämtliche Gräber vorbildlich gepflegt worden wären. Im September 1920 rief die Friedhofskommission die Eigentümer der in Verfall geratenen Erbbegräbnisplätze zur Meldung auf. Es waren nicht weniger als 43.

Quellen und Literatur

  • Stadtarchiv Lingen, Allgemeine Sammlung, Nr. 1191.
  • Stadtarchiv Lingen, Altes Archiv, Nr. 4081 sowie Nr. 1569 (Jg. 1822, Hausnr. 160).
  • Stadtarchiv Lingen, Ev.-ref. Kirchenarchiv (Dep.), Nr. 294 (Protokolle vom 24.3.1821, 12.7.1821, 18.7.1821, 19.9.1822).
  • Stadtarchiv Lingen, Fotosammlung.
  • Stadtarchiv Lingen, Genealogische Sammlung, Nr. 25, hier Nr. 999 und Nr. 1383.
  • Stadtarchiv Lingen, Lingensches Wochenblatt vom 11.9.1920.
  • Eiynck, Andreas: Hausmarken. Geheimnisvolle Zeichen an Häusern und Antiquitäten, in: Jahrbuch des Emsländischen Heimatbundes 58 (2012), S. 175-214.
  • Goldschmidt, Bernhard Anton: Geschichte der Grafschaft Lingen und ihres Kirchenwesens insbesondere. Neudruck der Ausgabe Osnabrück 1850, Osnabrück 1975.
  • Raydt, Th.: Der Kirchhof bei Lingen und dessen Verwaltung, Lingen 1886.
  • Tenfelde, Walter: Die Grabplatten der Stadt Lingen. Eine familiengeschichtliche Abhandlung (Die Lingener Heimat 3), Lingen-Ems 1950.


Artikeldatum: 3. August 2020
Fotos v.o.n.u.: k.A., k.A., Stadtarchiv Lingen, Fotosammlung