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Mit dem Anschluss an das überregionale Eisenbahnnetz im Sommer 1856 endete für die Stadt Lingen eine längere Phase wirtschaftlicher Stagnation. Während die Zahl der Einwohner in der ersten Jahrhunderthälfte lediglich um ca. 1000 auf 2736 gestiegen war, wuchs die Lingener Bevölkerung bis zum Ende des 19. Jahrhunderts um mehr als das Doppelte auf 7048 Einwohner. Der entscheidende Impuls zu diesem Wachstum war allerdings nicht die Eröffnung des neuen Bahnhofs und die damit verbundene enorme Verbesserung der Transport- und Reisemöglichkeiten; nachhaltigere Auswirkungen hatten vielmehr die östlich vom Bahnhof errichteten „Königlich Hannoverschen Bahnhofswerkstätten“, die gleichzeitig mit dem Beginn des offiziellen Zugverkehrs am 23. Juni 1856 die Arbeit aufnahmen.
Die Reparaturwerkstätte der Hannoverschen Westbahn wuchs rasch. Durch mehrfache Erweiterungen wurde sie innerhalb kurzer Zeit zum größten industriellen Arbeitgeber im südlichen Emsland und prägte die Entwicklung der Stadt Lingen mehr als ein Jahrhundert lang nachhaltig. Zeitweilig lebte jeder dritte Haushalt in Lingen vom Ausbesserungswerk, wie der Betrieb später genannt wurde.
Die Bahnhofswerkstätten in Lingen waren zuständig für die Bahnstrecke Löhne – Osnabrück – Rheine – Emden. Eine ähnliche Werkstättenanlage für die Eisenbahnen im südlichen Teil des Königreichs Hannover war 1855 in Göttingen errichtet worden. Für die Auswahl Lingens als Sitz einer Reparaturwerkstätte waren verschiedene Gründe maßgeblich. Der Kreuzungspunkt Rheine mit den Anschlussstrecken nach Westfalen und in die Niederlande war preußisch und kam somit für die hannoversche Staatsbahn als Werkstätten-Standort nicht in Betracht. Im Gegensatz zu Osnabrück lag Lingen etwa in der Mitte der Strecke Löhne – Emden. Das ergab den Vorteil geringerer Zuführungswege der zu untersuchenden Fahrzeuge. Außerdem soll die Hannoversche Regierung beabsichtigt haben, durch die Errichtung der Bahnhofswerkstätten in Lingen die Stadt für die wirtschaftlichen Nachteile zu entschädigen, die sich aus der wenige Jahre zuvor verfügten Auflösung der Lingener Garnison ergeben hatten. Und wahrscheinlich wollte man auch einen Ausgleich dafür zu schaffen, dass beim Wettstreit um den Knotenpunkt nicht Lingen, sondern Rheine den Zuschlag erhalten hatte.
Die Aufgaben der Bahnhofswerkstätten waren in den ersten Jahrzehnten sehr vielfältig. Sie betrafen anfangs sowohl den sog. Betriebsmaschinendienst, d.h. den Einsatz und die Pflege der Lokomotiven und Wagen, wie auch die Reparaturen am gesamten Fahrzeugpark. In der Wagenwerkstatt wurden auch neue Personen- und Güterwagen hergestellt, um für den sehr unterschiedlichen Anfall an Reparaturarbeiten einen Ausgleich zu haben und sich einen qualifizierten Stamm an Arbeitern zu sichern. In der Lokwerkstatt wurden später auch Lokomotiven umgebaut und die in den anderen Abteilungen anfallenden Schlosser- und Schmiedearbeiten erledigt. Die Bahnhofswerkstätten waren längere Zeit das einzige größere Industrieunternehmen in der weiteren Umgebung Lingens. Sie übernahmen deshalb gelegentlich auch schwierige Arbeiten für private Auftraggeber. So ist überliefert, dass die schmiedeeisernen Schleusentore für die Dockschleuse in Leer um 1860 in den Eisenbahnwerkstätten in Lingen gefertigt und anschließend vom Werkstättenpersonal auch vor Ort montiert wurden.
Als die Bahnhofswerkstätten Lingen am 23. Juni 1856 offiziell in Betrieb genommen wurden, waren bis auf die erst 1858 fertiggestellte Wagenhalle alle geplanten Gebäude vorhanden. Der Grundriß des gesamten Anlage stimmte weitgehend mit dem der Werkstätten in Göttingen überein. Die Gebäude waren U-förmig angeordnet, wobei die beiden Flügelgebäude, die Wagenhalle und die Lokomotivhalle, der Fahrzeugfertigung dienten.
Gegen Ende des 19. und in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts erfuhr die „Königlich preußische Hauptwerkstätte“ bzw. das „Werkstättenamt“ Lingen, wie das Werk damals genannt wurde, großzügige Erweiterungen. So entstanden bis zur Jahrhundertwende zusätzlich eine Wagenhalle, eine Lokomotivhalle, ein Magazin, eine Kesselschmiede und ein Betriebslokschuppen. 1908 wurde eine neue großzügige Lokomotiv-Richthalle bezogen (die inzwischen restaurierte Halle IV). Deren Grundfläche war so groß wie die gesamte ursprüngliche Werksanlage bei der Inbetriebnahme 1856. Da auf dem Gelände zwischen dem Gefängnis und der Langschmidt´schen Gasanstalt für eine Erweiterung der Wagenausbesserung nicht mehr ausreichend Platz war, erwarb die Reichsbahnverwaltung etwa 500 m südlich des Werksgeländes jenseits der Gleise ein größeres Grundstück und errichtete dort ab 1907 eine neue Wagenreparaturwerkstätte, die 1910 bezogen werden konnte. Die großzügigste Erweiterung in seiner über 100-jährigen Geschichte erfuhr das Werk zwischen 1914 und 1918 mit dem Bau der großen Lokrichthalle. Dabei mußten große Teile der im 19. Jahrhundert erstellten Gebäude abgebrochen werden. Die parallel zur Bahnstrecke errichtete Halle war 200 m lang, 55 m breit und 15 m hoch. Sie vereinigte alle Reparaturen an den Lokomotiven unter einem Dach und ließ eine fließbandmäßige Fertigung zu.
Die beiden Hallen des Wagenwerks und die große Lokrichthalle wurden im 2. Weltkrieg bei Luftangriffen stark beschädigt, nach dem Krieg jedoch wieder aufgebaut.
Die ersten Arbeitskräfte für die Bahnhofswerkstätten Lingen wurden am 1. Juni 1856 eingestellt: 1 Schlosser, 1 Stellmacher und 10 „Arbeitsleute“. Am Eröffnungstag der Westbahn, als das Werk offiziell die Arbeit aufnahm, waren 3 Handwerker und 19 Arbeiter beschäftigt. Ende 1856 bestand das Personal aus 66 Handwerkern, 50 Arbeitsleuten, 3 Werkmeistern, 1 Rechnungsführer und 1 Schreiber. Aus den folgenden Jahrzehnten sind kaum Nachrichten über den Personalstand überliefert. 1895 wurden 474 Arbeiter gezählt. 1914 sind es 1132 Arbeiter.
Die Personallisten aus dem 19. Jahrhundert sind noch erhalten. Aus ihnen geht hervor, dass manche Familien seit Inbetriebnahme über mehrere Generationen hinweg im Ausbesserungswerk beschäftigt waren. Andererseits geben die vielen fremden Geburtsorte davon Zeugnis, dass eine große Zahl der Arbeiter von auswärts stammte und zum Teil von weit her nach Lingen gekommen war. Ebenso auffällig ist die starke Fluktuation bei den Arbeitern und Handwerkern. Viele schieden schon nach wenigen Wochen oder Monaten wieder aus.
Den höchsten Beschäftigungsstand in seiner Geschichte verzeichnete das Werk im Jahre 1919 mit 2287 Arbeitern. Ursache dafür waren die starke Beanspruchung der Reichsbahn während der Kriegszeit, wodurch ein immenser Nachholbedarf an Reparaturen entstanden war, und die Demobilmachungs-Bestimmungen, die bei Kriegsende eine vermehrte Einstellung abgedankter Soldaten vorsahen. In den folgenden Jahren wurden jedoch kontinuierlich Arbeitsplätze im Ausbesserungswerk abgebaut, bis schließlich im Jahre 1932 mit 776 Beschäftigten die Talsohle erreicht war. 1936 wurde der Personalstand vom Jahr 1914 mit 1295 Beschäftigten wieder deutlich übertroffen. Trotz der Verlegung der gesamten Lokabteilung mit 250 Mitarbeitern und dem größten Teil der Werkstattausrüstung an die Ostfront nach Saporoshje am Dnjepr im November 1942 erreichte die Belegschaft im folgenden Jahr den höchsten Stand während des 2. Weltkriegs. Von den 1907 Beschäftigten des Jahres 1943 waren allerdings fast ein Drittel ausländische Zwangsarbeiter. Nach Kriegsende wuchs die Belegschaft dank der raschen Beseitigung der Kriegsschäden zunächst kurzfristig stark an. Doch auf den Nachkriegshöchststand im Jahre 1948 mit 1762 Beschäftigten folgte aufgrund verstärkter Rationalisierungsmaßnahmen und der Modernisierung des Wagenbedarfs ein stetiger Rückgang. 1954 wurde das Wagenwerk geschlossen. 1959 waren es nur noch 970 Beschäftigte, ab 1973 dauerhaft weniger als 500.
Am Jahresende 1985 wurden nur noch 112 Mitarbeiter gezählt. Zwei Jahre später verlor das Ausbesserungswerk Lingen seine Selbständigkeit. Ab Januar 1988 firmierte es unter der Bezeichnung „BW Osnabrück 2“. Ende 1996 wurde die Arbeit in den Werkshallen in Lingen endgültig eingestellt, die geringe Restbelegschaft zum Werk Osnabrück versetzt.
Die wirtschaftliche Bedeutung, die das Ausbesserungswerk für Lingen und Umgebung hatte, kann nicht hoch genug eingeschätzt werden. In einem überwiegend agrarisch und kleingewerblich geprägten Umfeld war es über ein Jahrhundert lang der mit Abstand größte Arbeitgeber. Mit Ausnahme der Eisengießerei & Maschinenfabrik Windhoff, Deters & Co, die in den 1870er Jahren zeitweilig ca. 300 Mitarbeiter zählte, hatten alle Betriebe in Lingen und Umgebung bis zum 2. Weltkrieg weniger als 100 Beschäftigte. Als das erwähnte Eisenwerk 1878 in Konkurs ging, fand ein großer Teil von dessen Belegschaft im Ausbesserungswerk einen neuen Arbeitsplatz. Erst durch den Strukturwandel, den Lingens Wirtschaft nach dem 2. Weltkrieg erlebte, verlor das Ausbesserungswerk seine Spitzenstellung. Spätestens gegen Ende der 1960er Jahre fiel es, was die Zahl der Beschäftigten betrifft, hinter einige der neugegründeten Unternehmen zurück.
Der Lingener Magistrat war sich der großen wirtschaftlichen Bedeutung des Ausbesserungswerks für die Stadt und ihre Bürger stets bewusst. Immer wieder reisten Delegationen aus Lingen zu Verhandlungen mit Behörden und Politikern nach Hannover und Berlin bzw. Bonn, um die drohende Schließung oder einen radikalen Personalabbau abzuwenden.
Lange bevor die Stadt Lingen eine zentrale Wasserversorgung (1910) und Stromversorgung (1925) erhielt, verfügte das Ausbesserungswerk über entsprechende Einrichtungen. 1908 wurden zwei Dampfmaschinensätze mit Gleichstromerzeugern installiert, die das Werk mit Strom versorgten. Von 1922 bis 1925 erhielt das St. Bonifatius-Hospital elektrischen Strom vom Ausbesserungswerk, weil es beim Anschluss der Stadt Lingen an das öffentliche Stromnetz zu erheblichen Verzögerungen gekommen war. Von besonderer Bedeutung für die Wirtschaft im Raum Lingen war auch die Lehrwerkstatt des Ausbesserungswerks, die von 1880 bis 1969 bestand. Zeitweilig erhielten dort über 100 Lehrlinge pro Jahr eine fundierte Ausbildung, die auch denen, die nicht übernommen wurden, gute Chancen auf einen Arbeitsplatz eröffnete.
Das Ausbesserungswerk darf als Wiege der Arbeiterbewegung im Emsland betrachtet werden. Die Konzentration vieler Arbeiter in einem einzigen Unternehmen erleichterte die Bildung von Organisationen zur Vertretung von Arbeiterinteressen. 1894 entstand im Ausbesserungswerk Lingen die erste Gewerkschaft des Emslands. Sie erhielt 1908 Konkurrenz durch eine Lingener Ortsgruppe der dem Zentrum nahestehenden „Gewerkschaft deutscher Eisenbahner“. Beide Ortsgruppen fühlten sich jedoch dem christlichen Lager zugehörig. Mit dem Gewerkschaftsvorsitzenden F. Voges, einem Schlosser des Ausbesserungswerks, gelangte erstmals 1907 ein Arbeiter ins Bürgervorsteherkollegium, wie damals der Stadtrat hieß. Bei der Reichstagswahl 1912 erreichte die SPD in Lingen mit 107 Stimmen (7,9 %) einen Achtungserfolg, zur Bildung lokaler Organisationen der sozialistischen Richtung der Arbeiterbewegung kam es jedoch vor 1918 nicht.
Christliche wie sozialistische Gewerkschaftsvertreter aus dem Ausbesserungswerk Lingen waren führend an der Bildung des Lingener Arbeiter- und Soldatenrats am 10. November 1918 beteiligt. Die Arbeiter des Ausbesserungswerk stellten das Gros der Mitglieder, als Ende 1918 ein Ortsverein der SPD und Anfang 1921 ein Ortsverein der KPD gegründet wurden. Beide Parteien waren während der Weimarer Zeit im Bürgervorsteherkollegium vertreten, wobei die KPD in der Kommunalwahl 1924 vier Sitze errang und damit doppelt so stark vertreten war wie die SPD. Ursache für diese Radikalisierung der Lingener Arbeiterschaft waren neben der Inflation der ersten Nachkriegsjahre vor allem die Massenentlassungen im Ausbesserungswerk. Zeitweilig war die Situation in Lingen so explosiv, dass im Herbst 1924 eine ganze Kompanie Reichswehr-Soldaten nach Lingen verlegt wurde, um das Werk vor Übergriffen erregter Arbeiter zu schützen. Nach dem 2. Weltkrieg gelangten Mitarbeiter des Ausbesserungswerks sowohl über die Listen der SPD wie auch der CDU und des Zentrums in den Stadtrat. Mit Wilhelm Engelke (SPD) und später Ferdi Altmann (CDU) stellten die Lingener Eisenbahner lange Jahre den stellvertretenden Bürgermeister der Stadt.
Das Ausbesserungswerk war ein Staatsbetrieb; die dort Beschäftigten waren zu manchen Zeiten in besonderer Weise der politischen Einflussnahme ausgesetzt. Nachweislich hat der Direktor des Ausbesserungswerks, der Geheime Baurat Hummell (1883-1911), zusammen mit seinen leitenden Beamten durch Manipulation und Einschüchterung gegen Ende des 19. Jahrhunderts mehrfach versucht, die Wahlen zum Preußischen Landtag zugunsten der Nationalliberalen zu beeinflussen. Im Anschluss an die Wahlen von 1888 wurde ihm dafür von der Wahlkommission offiziell ein Rüge erteilt. Die Annullierung des Wahlergebnisses erfolgte allerdings aus anderen Gründen.
Nach der Machtergreifung durch die Nationalsozialisten wurden im Mai 1933 die Eisenbahnergewerkschaften gleichgeschaltet bzw. aufgelöst, die führenden Funktionäre der sozialistischen Gewerkschaften verhaftet. SPD- und KPD-Mitglieder verloren ihren Arbeitsplatz. Alle übrigen Beschäftigten des Ausbesserungswerks mussten sich im Oktober 1933 per Unterschrift dazu verpflichten, „keine Beziehung zur Kommunistischen und zur Sozialdemokratischen Partei, ihren Hilfs- und Ersatzorganisationen und ihren Vertretern im Ausland“ zu unterhalten. Während des Krieges wurde die Belegschaft des Ausbesserungswerk mehrfach dazu angehalten, an Sonn- und Feiertagen sog. freiwillige Panzerschichten zu leisten und den dabei erarbeiteten Verdienst „dem Führer als Sonderspende zur Verfügung“ zu stellen.
Die patriarchalische Amtsauffassung der Werksleitung im 19. Jahrhundert äußerte sich allerdings nicht nur in Form von regierungsfreundlicher Wahlbeeinflussung, sondern auch durch die Initiierung von sozialen Fürsorge- und Hilfseinrichtungen. Auf Betreiben von Baurat Hummell entstand 1885 der Konsum-Verein Lingen, zu dessen Mitgliedern vor allem Beschäftigte des Ausbesserungswerks gehörten. Das Ziel dieses Vereins war die preisgünstige Versorgung der Mitglieder mit Lebensmitteln. Ebenfalls auf das Betreiben von Baurat Hummell wurde 1899 der gemeinnützige Bau- und Sparverein Lingen gegründet; durch ihn sollte den Arbeitern der Erwerb von Eigenheimen ermöglicht werden. Das Ausbesserungswerk förderte jedoch nicht nur den genossenschaftlichen Wohnungsbau, es unterstützte auch den Bau von Mietwohnungen für die Belegschaft durch Zuschüsse und Darlehen. Zeitweilig ließ es sogar durch eine bahneigene Siedlungsgesellschaft selbst Häuser bauen. Die Mietwohnungen und Siedlungshäuser für die Eisenbahnarbeiter entstanden vor allem längs der Ausfallstraßen im Osten der Stadt. Zu den Eisenbahner-Siedlungshäusern gehörte in der Regel ein großer Garten, so dass die Möglichkeit der Selbstversorgung durch Gartenbau und Kleinviehhaltung (z.B. Ziegen und Schweine) bestand.
Der räumlichen Distanz der Arbeiterquartiere vom Stadtzentrum entsprach lange Zeit die soziale und gesellschaftliche Stellung der Arbeiter „am Rande der bürgerlichen Gesellschaft“, die in Lingen von den Kaufleuten, Beamten und Handwerkern repräsentiert wurde. Die Folge war, dass sich seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert neben den traditionellen Schützenvereinen und dem bürgerlichen Vereinswesen ein breites Spektrum von Arbeitervereinen etablierte, zu deren Mitgliedern entweder überwiegend oder ausschließlich Eisenbahnbeamte und -arbeiter zählten. Der wichtigste unter ihnen war der 1901 gegründete Eisenbahnverein Lingen, dessen Aufgabe es war, „mit Hilfe der ideellen und materiellen Kräfte des Berufsstandes zusätzliche Fürsorgeeinrichtungen für die Eisenbahner und deren Angehörige zu schaffen“. Neben seinen zahlreichen caritativen Aktivitäten besaß dieser Verein auch eine Fahne, die bei der Beerdigung eines Vereinsmitglieds vorangetragen wurde. Des weiteren sind zu nennen der Evangelische Arbeiterbildungsverein (seit 1872) und die ihm angegliederte Liedertafel, der Katholische Arbeiterverein und der Club Gemütlichkeit fremder Eisenbahner; nach dem 1. Weltkrieg entstanden der Arbeiter-Gesangverein Hoffnung (1919) und der Freie Turn- und Sportverein „Vorwärts“(1919). Speziell für Eisenbahn-Arbeiter wurde 1927 mit Unterstützung des Ausbesserungswerks der Reichsbahn-Turn- und Sportverein Lingen gegründet. Er betrieb seit 1930 auf einer gepachteten Wiese in Schepsdorf die Ems-Badeanstalt und besaß eine eigene Turnhalle beim Wagenwerk sowie ein Bootshaus am Kanal. Als ESV Lingen gehört dieser Verein auch Jahre nach der Schließung des Ausbesserungswerks noch zu den größten Sportvereinen der Stadt.
Das Ausbesserungswerk hat über 100 Jahre die Geschichte der Stadt Lingen und ihrer Bürger nachhaltig beeinflusst. Vielfältig sind die Spuren, die es im Stadtbild und in der Erinnerung der hier lebenden Menschen hinterlassen hat. Als nach dem 2. Weltkrieg infolge der Modernisierung des Eisenbahn-Wagenparks und verstärkter Rationalisierungsbemühungen der Bundesbahn die Belegschaft immer mehr abnahm, hielten sich die negativen Auswirkungen auf die wirtschaftliche Entwicklung Lingens in Grenzen. Der Niedergang des Ausbesserungswerks war Teil eines Strukturwandels, aus dem Lingens Wirtschaft gestärkt hervorging. An die Stelle des verkehrstechnischen Staatsbetriebs mit zeitweilig über 1000 Beschäftigten trat ein Mix mittelgroßer Industriebetriebe verschiedener Branchen, wenn auch mit einem deutlichen Schwerpunkt im Energiebereich. Größter Arbeitgeber in Lingen mit mehr als 1000 Beschäftigten ist heute nicht mehr ein Industriebetrieb, sondern das im Jahr 1855 gegründete St. Bonifatius-Hospital.
Der Aufsatz ist entnommen dem Bild-Band ''Sang der Maschinen'' von Dr. Ruping, Fachhochschule Osnabrück, Standort Lingen.
Mit dem Anschluss an das überregionale Eisenbahnnetz im Sommer 1856 endete für die Stadt Lingen eine längere Phase wirtschaftlicher Stagnation. Während die Zahl der Einwohner in der ersten Jahrhunderthälfte lediglich um ca. 1000 auf 2736 gestiegen war, wuchs die Lingener Bevölkerung bis zum Ende des 19. Jahrhunderts um mehr als das Doppelte auf 7048 Einwohner. Der entscheidende Impuls zu diesem Wachstum war allerdings nicht die Eröffnung des neuen Bahnhofs und die damit verbundene enorme Verbesserung der Transport- und Reisemöglichkeiten; nachhaltigere Auswirkungen hatten vielmehr die östlich vom Bahnhof errichteten „Königlich Hannoverschen Bahnhofswerkstätten“, die gleichzeitig mit dem Beginn des offiziellen Zugverkehrs am 23. Juni 1856 die Arbeit aufnahmen.
Die Reparaturwerkstätte der Hannoverschen Westbahn wuchs rasch. Durch mehrfache Erweiterungen wurde sie innerhalb kurzer Zeit zum größten industriellen Arbeitgeber im südlichen Emsland und prägte die Entwicklung der Stadt Lingen mehr als ein Jahrhundert lang nachhaltig. Zeitweilig lebte jeder dritte Haushalt in Lingen vom Ausbesserungswerk, wie der Betrieb später genannt wurde.
Die Bahnhofswerkstätten in Lingen waren zuständig für die Bahnstrecke Löhne – Osnabrück – Rheine – Emden. Eine ähnliche Werkstättenanlage für die Eisenbahnen im südlichen Teil des Königreichs Hannover war 1855 in Göttingen errichtet worden. Für die Auswahl Lingens als Sitz einer Reparaturwerkstätte waren verschiedene Gründe maßgeblich. Der Kreuzungspunkt Rheine mit den Anschlussstrecken nach Westfalen und in die Niederlande war preußisch und kam somit für die hannoversche Staatsbahn als Werkstätten-Standort nicht in Betracht. Im Gegensatz zu Osnabrück lag Lingen etwa in der Mitte der Strecke Löhne – Emden. Das ergab den Vorteil geringerer Zuführungswege der zu untersuchenden Fahrzeuge. Außerdem soll die Hannoversche Regierung beabsichtigt haben, durch die Errichtung der Bahnhofswerkstätten in Lingen die Stadt für die wirtschaftlichen Nachteile zu entschädigen, die sich aus der wenige Jahre zuvor verfügten Auflösung der Lingener Garnison ergeben hatten. Und wahrscheinlich wollte man auch einen Ausgleich dafür zu schaffen, dass beim Wettstreit um den Knotenpunkt nicht Lingen, sondern Rheine den Zuschlag erhalten hatte.
Die Aufgaben der Bahnhofswerkstätten waren in den ersten Jahrzehnten sehr vielfältig. Sie betrafen anfangs sowohl den sog. Betriebsmaschinendienst, d.h. den Einsatz und die Pflege der Lokomotiven und Wagen, wie auch die Reparaturen am gesamten Fahrzeugpark. In der Wagenwerkstatt wurden auch neue Personen- und Güterwagen hergestellt, um für den sehr unterschiedlichen Anfall an Reparaturarbeiten einen Ausgleich zu haben und sich einen qualifizierten Stamm an Arbeitern zu sichern. In der Lokwerkstatt wurden später auch Lokomotiven umgebaut und die in den anderen Abteilungen anfallenden Schlosser- und Schmiedearbeiten erledigt. Die Bahnhofswerkstätten waren längere Zeit das einzige größere Industrieunternehmen in der weiteren Umgebung Lingens. Sie übernahmen deshalb gelegentlich auch schwierige Arbeiten für private Auftraggeber. So ist überliefert, dass die schmiedeeisernen Schleusentore für die Dockschleuse in Leer um 1860 in den Eisenbahnwerkstätten in Lingen gefertigt und anschließend vom Werkstättenpersonal auch vor Ort montiert wurden.
Als die Bahnhofswerkstätten Lingen am 23. Juni 1856 offiziell in Betrieb genommen wurden, waren bis auf die erst 1858 fertiggestellte Wagenhalle alle geplanten Gebäude vorhanden. Der Grundriß des gesamten Anlage stimmte weitgehend mit dem der Werkstätten in Göttingen überein. Die Gebäude waren U-förmig angeordnet, wobei die beiden Flügelgebäude, die Wagenhalle und die Lokomotivhalle, der Fahrzeugfertigung dienten.
Gegen Ende des 19. und in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts erfuhr die „Königlich preußische Hauptwerkstätte“ bzw. das „Werkstättenamt“ Lingen, wie das Werk damals genannt wurde, großzügige Erweiterungen. So entstanden bis zur Jahrhundertwende zusätzlich eine Wagenhalle, eine Lokomotivhalle, ein Magazin, eine Kesselschmiede und ein Betriebslokschuppen. 1908 wurde eine neue großzügige Lokomotiv-Richthalle bezogen (die inzwischen restaurierte Halle IV). Deren Grundfläche war so groß wie die gesamte ursprüngliche Werksanlage bei der Inbetriebnahme 1856. Da auf dem Gelände zwischen dem Gefängnis und der Langschmidt´schen Gasanstalt für eine Erweiterung der Wagenausbesserung nicht mehr ausreichend Platz war, erwarb die Reichsbahnverwaltung etwa 500 m südlich des Werksgeländes jenseits der Gleise ein größeres Grundstück und errichtete dort ab 1907 eine neue Wagenreparaturwerkstätte, die 1910 bezogen werden konnte. Die großzügigste Erweiterung in seiner über 100-jährigen Geschichte erfuhr das Werk zwischen 1914 und 1918 mit dem Bau der großen Lokrichthalle. Dabei mußten große Teile der im 19. Jahrhundert erstellten Gebäude abgebrochen werden. Die parallel zur Bahnstrecke errichtete Halle war 200 m lang, 55 m breit und 15 m hoch. Sie vereinigte alle Reparaturen an den Lokomotiven unter einem Dach und ließ eine fließbandmäßige Fertigung zu.
Die beiden Hallen des Wagenwerks und die große Lokrichthalle wurden im 2. Weltkrieg bei Luftangriffen stark beschädigt, nach dem Krieg jedoch wieder aufgebaut.
Die ersten Arbeitskräfte für die Bahnhofswerkstätten Lingen wurden am 1. Juni 1856 eingestellt: 1 Schlosser, 1 Stellmacher und 10 „Arbeitsleute“. Am Eröffnungstag der Westbahn, als das Werk offiziell die Arbeit aufnahm, waren 3 Handwerker und 19 Arbeiter beschäftigt. Ende 1856 bestand das Personal aus 66 Handwerkern, 50 Arbeitsleuten, 3 Werkmeistern, 1 Rechnungsführer und 1 Schreiber. Aus den folgenden Jahrzehnten sind kaum Nachrichten über den Personalstand überliefert. 1895 wurden 474 Arbeiter gezählt. 1914 sind es 1132 Arbeiter.
Die Personallisten aus dem 19. Jahrhundert sind noch erhalten. Aus ihnen geht hervor, dass manche Familien seit Inbetriebnahme über mehrere Generationen hinweg im Ausbesserungswerk beschäftigt waren. Andererseits geben die vielen fremden Geburtsorte davon Zeugnis, dass eine große Zahl der Arbeiter von auswärts stammte und zum Teil von weit her nach Lingen gekommen war. Ebenso auffällig ist die starke Fluktuation bei den Arbeitern und Handwerkern. Viele schieden schon nach wenigen Wochen oder Monaten wieder aus.
Den höchsten Beschäftigungsstand in seiner Geschichte verzeichnete das Werk im Jahre 1919 mit 2287 Arbeitern. Ursache dafür waren die starke Beanspruchung der Reichsbahn während der Kriegszeit, wodurch ein immenser Nachholbedarf an Reparaturen entstanden war, und die Demobilmachungs-Bestimmungen, die bei Kriegsende eine vermehrte Einstellung abgedankter Soldaten vorsahen. In den folgenden Jahren wurden jedoch kontinuierlich Arbeitsplätze im Ausbesserungswerk abgebaut, bis schließlich im Jahre 1932 mit 776 Beschäftigten die Talsohle erreicht war. 1936 wurde der Personalstand vom Jahr 1914 mit 1295 Beschäftigten wieder deutlich übertroffen. Trotz der Verlegung der gesamten Lokabteilung mit 250 Mitarbeitern und dem größten Teil der Werkstattausrüstung an die Ostfront nach Saporoshje am Dnjepr im November 1942 erreichte die Belegschaft im folgenden Jahr den höchsten Stand während des 2. Weltkriegs. Von den 1907 Beschäftigten des Jahres 1943 waren allerdings fast ein Drittel ausländische Zwangsarbeiter. Nach Kriegsende wuchs die Belegschaft dank der raschen Beseitigung der Kriegsschäden zunächst kurzfristig stark an. Doch auf den Nachkriegshöchststand im Jahre 1948 mit 1762 Beschäftigten folgte aufgrund verstärkter Rationalisierungsmaßnahmen und der Modernisierung des Wagenbedarfs ein stetiger Rückgang. 1954 wurde das Wagenwerk geschlossen. 1959 waren es nur noch 970 Beschäftigte, ab 1973 dauerhaft weniger als 500.
Am Jahresende 1985 wurden nur noch 112 Mitarbeiter gezählt. Zwei Jahre später verlor das Ausbesserungswerk Lingen seine Selbständigkeit. Ab Januar 1988 firmierte es unter der Bezeichnung „BW Osnabrück 2“. Ende 1996 wurde die Arbeit in den Werkshallen in Lingen endgültig eingestellt, die geringe Restbelegschaft zum Werk Osnabrück versetzt.
Die wirtschaftliche Bedeutung, die das Ausbesserungswerk für Lingen und Umgebung hatte, kann nicht hoch genug eingeschätzt werden. In einem überwiegend agrarisch und kleingewerblich geprägten Umfeld war es über ein Jahrhundert lang der mit Abstand größte Arbeitgeber. Mit Ausnahme der Eisengießerei & Maschinenfabrik Windhoff, Deters & Co, die in den 1870er Jahren zeitweilig ca. 300 Mitarbeiter zählte, hatten alle Betriebe in Lingen und Umgebung bis zum 2. Weltkrieg weniger als 100 Beschäftigte. Als das erwähnte Eisenwerk 1878 in Konkurs ging, fand ein großer Teil von dessen Belegschaft im Ausbesserungswerk einen neuen Arbeitsplatz. Erst durch den Strukturwandel, den Lingens Wirtschaft nach dem 2. Weltkrieg erlebte, verlor das Ausbesserungswerk seine Spitzenstellung. Spätestens gegen Ende der 1960er Jahre fiel es, was die Zahl der Beschäftigten betrifft, hinter einige der neugegründeten Unternehmen zurück.
Der Lingener Magistrat war sich der großen wirtschaftlichen Bedeutung des Ausbesserungswerks für die Stadt und ihre Bürger stets bewusst. Immer wieder reisten Delegationen aus Lingen zu Verhandlungen mit Behörden und Politikern nach Hannover und Berlin bzw. Bonn, um die drohende Schließung oder einen radikalen Personalabbau abzuwenden.
Lange bevor die Stadt Lingen eine zentrale Wasserversorgung (1910) und Stromversorgung (1925) erhielt, verfügte das Ausbesserungswerk über entsprechende Einrichtungen. 1908 wurden zwei Dampfmaschinensätze mit Gleichstromerzeugern installiert, die das Werk mit Strom versorgten. Von 1922 bis 1925 erhielt das St. Bonifatius-Hospital elektrischen Strom vom Ausbesserungswerk, weil es beim Anschluss der Stadt Lingen an das öffentliche Stromnetz zu erheblichen Verzögerungen gekommen war. Von besonderer Bedeutung für die Wirtschaft im Raum Lingen war auch die Lehrwerkstatt des Ausbesserungswerks, die von 1880 bis 1969 bestand. Zeitweilig erhielten dort über 100 Lehrlinge pro Jahr eine fundierte Ausbildung, die auch denen, die nicht übernommen wurden, gute Chancen auf einen Arbeitsplatz eröffnete.
Das Ausbesserungswerk darf als Wiege der Arbeiterbewegung im Emsland betrachtet werden. Die Konzentration vieler Arbeiter in einem einzigen Unternehmen erleichterte die Bildung von Organisationen zur Vertretung von Arbeiterinteressen. 1894 entstand im Ausbesserungswerk Lingen die erste Gewerkschaft des Emslands. Sie erhielt 1908 Konkurrenz durch eine Lingener Ortsgruppe der dem Zentrum nahestehenden „Gewerkschaft deutscher Eisenbahner“. Beide Ortsgruppen fühlten sich jedoch dem christlichen Lager zugehörig. Mit dem Gewerkschaftsvorsitzenden F. Voges, einem Schlosser des Ausbesserungswerks, gelangte erstmals 1907 ein Arbeiter ins Bürgervorsteherkollegium, wie damals der Stadtrat hieß. Bei der Reichstagswahl 1912 erreichte die SPD in Lingen mit 107 Stimmen (7,9 %) einen Achtungserfolg, zur Bildung lokaler Organisationen der sozialistischen Richtung der Arbeiterbewegung kam es jedoch vor 1918 nicht.
Christliche wie sozialistische Gewerkschaftsvertreter aus dem Ausbesserungswerk Lingen waren führend an der Bildung des Lingener Arbeiter- und Soldatenrats am 10. November 1918 beteiligt. Die Arbeiter des Ausbesserungswerk stellten das Gros der Mitglieder, als Ende 1918 ein Ortsverein der SPD und Anfang 1921 ein Ortsverein der KPD gegründet wurden. Beide Parteien waren während der Weimarer Zeit im Bürgervorsteherkollegium vertreten, wobei die KPD in der Kommunalwahl 1924 vier Sitze errang und damit doppelt so stark vertreten war wie die SPD. Ursache für diese Radikalisierung der Lingener Arbeiterschaft waren neben der Inflation der ersten Nachkriegsjahre vor allem die Massenentlassungen im Ausbesserungswerk. Zeitweilig war die Situation in Lingen so explosiv, dass im Herbst 1924 eine ganze Kompanie Reichswehr-Soldaten nach Lingen verlegt wurde, um das Werk vor Übergriffen erregter Arbeiter zu schützen. Nach dem 2. Weltkrieg gelangten Mitarbeiter des Ausbesserungswerks sowohl über die Listen der SPD wie auch der CDU und des Zentrums in den Stadtrat. Mit Wilhelm Engelke (SPD) und später Ferdi Altmann (CDU) stellten die Lingener Eisenbahner lange Jahre den stellvertretenden Bürgermeister der Stadt.
Das Ausbesserungswerk war ein Staatsbetrieb; die dort Beschäftigten waren zu manchen Zeiten in besonderer Weise der politischen Einflussnahme ausgesetzt. Nachweislich hat der Direktor des Ausbesserungswerks, der Geheime Baurat Hummell (1883-1911), zusammen mit seinen leitenden Beamten durch Manipulation und Einschüchterung gegen Ende des 19. Jahrhunderts mehrfach versucht, die Wahlen zum Preußischen Landtag zugunsten der Nationalliberalen zu beeinflussen. Im Anschluss an die Wahlen von 1888 wurde ihm dafür von der Wahlkommission offiziell ein Rüge erteilt. Die Annullierung des Wahlergebnisses erfolgte allerdings aus anderen Gründen.
Nach der Machtergreifung durch die Nationalsozialisten wurden im Mai 1933 die Eisenbahnergewerkschaften gleichgeschaltet bzw. aufgelöst, die führenden Funktionäre der sozialistischen Gewerkschaften verhaftet. SPD- und KPD-Mitglieder verloren ihren Arbeitsplatz. Alle übrigen Beschäftigten des Ausbesserungswerks mussten sich im Oktober 1933 per Unterschrift dazu verpflichten, „keine Beziehung zur Kommunistischen und zur Sozialdemokratischen Partei, ihren Hilfs- und Ersatzorganisationen und ihren Vertretern im Ausland“ zu unterhalten. Während des Krieges wurde die Belegschaft des Ausbesserungswerk mehrfach dazu angehalten, an Sonn- und Feiertagen sog. freiwillige Panzerschichten zu leisten und den dabei erarbeiteten Verdienst „dem Führer als Sonderspende zur Verfügung“ zu stellen.
Die patriarchalische Amtsauffassung der Werksleitung im 19. Jahrhundert äußerte sich allerdings nicht nur in Form von regierungsfreundlicher Wahlbeeinflussung, sondern auch durch die Initiierung von sozialen Fürsorge- und Hilfseinrichtungen. Auf Betreiben von Baurat Hummell entstand 1885 der Konsum-Verein Lingen, zu dessen Mitgliedern vor allem Beschäftigte des Ausbesserungswerks gehörten. Das Ziel dieses Vereins war die preisgünstige Versorgung der Mitglieder mit Lebensmitteln. Ebenfalls auf das Betreiben von Baurat Hummell wurde 1899 der gemeinnützige Bau- und Sparverein Lingen gegründet; durch ihn sollte den Arbeitern der Erwerb von Eigenheimen ermöglicht werden. Das Ausbesserungswerk förderte jedoch nicht nur den genossenschaftlichen Wohnungsbau, es unterstützte auch den Bau von Mietwohnungen für die Belegschaft durch Zuschüsse und Darlehen. Zeitweilig ließ es sogar durch eine bahneigene Siedlungsgesellschaft selbst Häuser bauen. Die Mietwohnungen und Siedlungshäuser für die Eisenbahnarbeiter entstanden vor allem längs der Ausfallstraßen im Osten der Stadt. Zu den Eisenbahner-Siedlungshäusern gehörte in der Regel ein großer Garten, so dass die Möglichkeit der Selbstversorgung durch Gartenbau und Kleinviehhaltung (z.B. Ziegen und Schweine) bestand.
Der räumlichen Distanz der Arbeiterquartiere vom Stadtzentrum entsprach lange Zeit die soziale und gesellschaftliche Stellung der Arbeiter „am Rande der bürgerlichen Gesellschaft“, die in Lingen von den Kaufleuten, Beamten und Handwerkern repräsentiert wurde. Die Folge war, dass sich seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert neben den traditionellen Schützenvereinen und dem bürgerlichen Vereinswesen ein breites Spektrum von Arbeitervereinen etablierte, zu deren Mitgliedern entweder überwiegend oder ausschließlich Eisenbahnbeamte und -arbeiter zählten. Der wichtigste unter ihnen war der 1901 gegründete Eisenbahnverein Lingen, dessen Aufgabe es war, „mit Hilfe der ideellen und materiellen Kräfte des Berufsstandes zusätzliche Fürsorgeeinrichtungen für die Eisenbahner und deren Angehörige zu schaffen“. Neben seinen zahlreichen caritativen Aktivitäten besaß dieser Verein auch eine Fahne, die bei der Beerdigung eines Vereinsmitglieds vorangetragen wurde. Des weiteren sind zu nennen der Evangelische Arbeiterbildungsverein (seit 1872) und die ihm angegliederte Liedertafel, der Katholische Arbeiterverein und der Club Gemütlichkeit fremder Eisenbahner; nach dem 1. Weltkrieg entstanden der Arbeiter-Gesangverein Hoffnung (1919) und der Freie Turn- und Sportverein „Vorwärts“(1919). Speziell für Eisenbahn-Arbeiter wurde 1927 mit Unterstützung des Ausbesserungswerks der Reichsbahn-Turn- und Sportverein Lingen gegründet. Er betrieb seit 1930 auf einer gepachteten Wiese in Schepsdorf die Ems-Badeanstalt und besaß eine eigene Turnhalle beim Wagenwerk sowie ein Bootshaus am Kanal. Als ESV Lingen gehört dieser Verein auch Jahre nach der Schließung des Ausbesserungswerks noch zu den größten Sportvereinen der Stadt.
Das Ausbesserungswerk hat über 100 Jahre die Geschichte der Stadt Lingen und ihrer Bürger nachhaltig beeinflusst. Vielfältig sind die Spuren, die es im Stadtbild und in der Erinnerung der hier lebenden Menschen hinterlassen hat. Als nach dem 2. Weltkrieg infolge der Modernisierung des Eisenbahn-Wagenparks und verstärkter Rationalisierungsbemühungen der Bundesbahn die Belegschaft immer mehr abnahm, hielten sich die negativen Auswirkungen auf die wirtschaftliche Entwicklung Lingens in Grenzen. Der Niedergang des Ausbesserungswerks war Teil eines Strukturwandels, aus dem Lingens Wirtschaft gestärkt hervorging. An die Stelle des verkehrstechnischen Staatsbetriebs mit zeitweilig über 1000 Beschäftigten trat ein Mix mittelgroßer Industriebetriebe verschiedener Branchen, wenn auch mit einem deutlichen Schwerpunkt im Energiebereich. Größter Arbeitgeber in Lingen mit mehr als 1000 Beschäftigten ist heute nicht mehr ein Industriebetrieb, sondern das im Jahr 1855 gegründete St. Bonifatius-Hospital.
Der Aufsatz ist entnommen dem Bild-Band ''Sang der Maschinen'' von Dr. Ruping, Fachhochschule Osnabrück, Standort Lingen.