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Als der Lingener Stadtrat am 11. Februar 1947 in öffentlicher Sitzung zusammentrat, stellte Bürgermeister Julius Landzettel, selbst erst seit einigen Monaten im Amt, den Bericht der Stadtverwaltung über das Jahr 1946 vor. Das Dokument zeichnet ein eindringliches Bild von der Situation, in der sich die Stadt vor siebzig Jahren befand. Bürgermeister Landzettel berichtet:
„Während der Winter keine zu grosse Kälte brachte, wurde die Stadt am 10. Februar 1946 durch ein starkes Hochwasser der Ems und des Kanals derart geflutet, dass die Hälfte der Stadtfläche unter Wasser stand. Auf dem Marktplatz stand das Wasser 1 Meter hoch. Die sofort von der Stadtverwaltung eingeleiteten Massnahmen zur Versorgung der überfluteten Teile der Stadt mit Lebensmitteln waren von gutem Erfolg. Menschenopfer waren nicht zu beklagen. (…) Auch ausserhalb der Stadt, am Horstweg und an der städtischen Kuhweide, hatte das Hochwasser grosse Verwüstungen angerichtet, zumal dort der Dammdurchstich zur Entlastung der Stadt erfolgt ist.“
„Die Polizei ist auf Anordnung der Mil[itär]-Reg[ierung] von der Stadtverwaltung getrennt worden und befindet sich jetzt im städtischen Gebäude Markt 4. Da eine Trennung der Polizei von der Stadtverwaltung als untragbar angesehen werden muss, ist bereits bei den höheren Stellen angeregt worden, die städtische Polizei wieder der Stadtverwaltung zu unterstellen, um auf diese Weise Herr im eigenen Haus zu sein.“
„Nach Neugliederung der Stadtverwaltung sind jetzt insgesamt 10 Abteilungen vorhanden. Die Hauptverwaltung hat die laufenden Arbeiten der allgeme[inen] Verwaltung durchzuführen. Wiederholt mussten grössere Mengen an Möbelstücken und sonstigem Hausrat von den Lingener Einwohnern requiriert werden. Die Requirierungen sind erforderlich geworden, weil zu den polnischen Besatzungen noch 2 englische Regimenter in einer Stärke von etwa 2000 Mann in die Stadt ihren Einzug erhalten haben. Da die Lingener Bevölkerung durch die Kriegsereignisse und durch Requirierungen im Jahre 1945 in ihren Beständen stark in Anspruch genommen worden ist, waren die Requirierungen mit grössten Schwierigkeiten verbunden. Auch Häuser mussten für die neuen Truppen beschlagnahmt werden. Insgesamt sind z. Zt. 68 Häuser mit etwa 270 Wohnungen von alliierten Truppen belegt. Die Unterbringung der Familien, die ihre Häuser verlassen mussten, bereitet grössere Schwierigkeiten, zumal die Stadt zu etwa 15 % beschädigt worden ist und weil die Stadt 2600 Flüchtlinge und Evakuierte zusätzlich aufnehmen musste.“
„Die Lage im Wohnungswesen ist als kritisch anzusehen. Die Wohnungsnot kann nur dadurch beseitigt werden, dass die beschädigten Häuser wieder aufgebaut werden, dass Baracken ausgestellt werden und dass die äusserst starke alliierte Garnison herabgesetzt wird und dass die all. Truppen sich ebenfalls in ihren Wohnungen etwas einschränken und zusammenziehen.“
„Für das Fürsorgewesen war der Wegfall der Militärrenten im August 1946 von grosser Bedeutung. Die Umstellung auf die soziale Versicherung brachte der Verwaltung erhebliche Mehrarbeit, den Kriegsbeschädigten und Hinterbliebenen starke Verzögerung in der Erledigung ihrer Anträge und der Kasse eine grosse Mehrbelastung. Um die Fürsorgekosten überhaupt tragen zu können, hat der Rat der Stadt und die Wohlfahrtsverbände zu einer Notspende aufgerufen, die einen sehr starken Anklang gefunden hat.“
„Es wurden seitens des Fürsorgeamtes die grössten Anstrengungen unternommen, um die erwerbslosen Kriegsbeschädigten in Arbeit und Brot zu vermitteln. Eine Arbeitsvermittlung ist, da es sich meistens um Amputierte handelt, besonders schwierig. (…) Die Stadtverwaltung selbst ist in dieser Hinsicht vorbildlich gewesen. Bei Neueinstellungen sind fast nur Kriegsbeschädigte berücksichtigt worden.“
„Auf die unzulängliche Belieferung mit Bezugscheinen ist des öfteren beim Landeswirtschaftsamt Hannover eindringlichst hingewiesen worden. Es ist bereits soweit, dass Schulkinder dem Unterricht fernbleiben müssen, weil Schuhe nicht zur Verfügung stehen. Ganz besonders schwierig ist die Versorgung werdender Mütter mit Babywäsche.“
„Durch den Zuzug der Flüchtlinge und Evakuierten mussten Arbeitsstätten geschaffen werden. Als Hauptarbeitgeber erwies sich das Reichsbahnausbesserungswerk Lingen, welches jetzt über 1600 Arbeitskräfte beschäftigt. Aber auch andere Industrieunternehmen und Handwerksbetriebe wurden zugelassen.“
„Da die Stadt Lingen immer noch ohne eine ordentliche Kanalisation ist, ist die Firma Franke-Werke, Bremen, mit der Aufstellung eines Kanalisationsprojekts beauftragt worden. (…) Bisher konnten 3 stadteigene und 7 private Grundstücke vom Schutt geräumt werden. Infolge der wenigen Baumaterialien ist die Bautätigkeit im Hochbau sehr gering gewesen. So konnten lediglich die Volksschulen, die Mittelschule und die Berufsschule notdürftig instandgesetzt werden. Der Schießstand der Wilhelmshöhe wurde zu einer Wohnung umgebaut. (…) Für die Versorgung der Stadt mit Wasser müssen neue Brunnen angelegt werden. (…) Da die Zuteilung an Kohle für das städt. Gaswerk das ganze Jahr über sehr knapp war, konnte Gas nur stundenweise abgegeben werden.“
Der Bericht endete mit den Worten, „dass die Sorgen der Stadt nicht geringer, sondern grösser geworden sind, und auch heute ist die Lage so, dass der Tiefstand offenbar noch nicht erreicht ist.“ Dem setzte Landzettel abschließend dann doch die Hoffnung entgegen, dass das Jahr 1947 ein Jahr des Aufstiegs sein möge.
Die Zahl der Flüchtlinge stieg in den nächsten Jahren weiter an. 1950 lebten rund 4.250 Flüchtlinge und Evakuierte in Lingen, über 20 Prozent der Stadtbevölkerung. In Bramsche-Wesel und Mundersum waren es 1950 sogar über 30 Prozent. Zum Vergleich: Aktuell leben in Lingen 1.355 Flüchtlinge (Stand: Juni 2016), nicht einmal 2,5 Prozent der Bevölkerung.
Am 20. Oktober gehen die Herbstvorträge des Stadtarchivs in eine neue Runde. Den Anfang macht Dr. Ludwig Remling mit einem Vortrag über die wirtschaftliche Entwicklung im Raum Lingen in den ersten Jahren nach dem 2. Weltkrieg.
Quellen und Literatur