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In den 1920er Jahre hatte eine Spekulationsblase den Dow Jones zu immer neuen Höhen geführt. Im Oktober 1929 – vor rund 90 Jahren also – platzte die Blase, und dem New Yorker Börsencrash folgte eine Weltwirtschaftskrise, die auch im Emsland tiefe Spuren hinterließ.
Allerdings war die Lage hier schon vorher überaus prekär. Missernten, Witterungsschäden und eine ohnehin stark unterentwickelte Infrastruktur hatten viele Bauern in eine Existenzkrise geworfen. Eine Steuererhöhung, die insbesondere die Landwirtschaft belastete, hatte zu einer breiten Protestbewegung in der Landbevölkerung geführt. Im Emsland erreichte die Landvolkbewegung ihren Höhepunkt, als sich am 26. Januar 1928 rund 15.000 Demonstranten in Lingen versammelten. Es war der größte Protestzug, den die Stadt bisher gesehen hatte.
Die Weltwirtschaftskrise von 1929 verschlimmerte die ohnehin schon schwierigen Verhältnisse noch einmal. Bei einem großen Teil der Lingener Bevölkerung herrschte bittere Not. Die öffentlichen Haushalte verfolgten eine Sparpolitik und kürzten die Arbeitslosenunterstützung. Langzeitarbeitslosen stand diese Unterstützung ohnehin nicht zu. Und die Stadt Lingen musste sich noch immer von dem Wirbelsturm erholen, der 1927 eine Schneise der Verwüstung durch die Stadt gezogen hatte. Um die wachsende Zahl der Arbeitslosen in Beschäftigung zu bringen, wurde 1931 in Deutschland der Freiweillige Arbeitsdienst eingeführt. Im Kreis Lingen befanden sich acht Lager des FAD, darunter eines in Lingen selbst. Sie standen meist unter Trägerschaft des Kolpingvereins.
Im September 1931 rief Bürgermeister Gilles außerdem zur Bildung einer Notgemeinschaft auf. Auch in Lingen gebe es hunderte Bedürftige, und die öffentlichen Mittel reichten nicht aus, so Gilles. Das Versorgungsamt habe jetzt schon doppelt so viele Arbeitslose zu versorgen wie sonst. Unter dem Namen „Notgemeinschaft Lingen 1931“ und dem Vorsitz von Gilles fand sich ein Kollegium zusammen, in dem sich unter anderem Vertreterinnen der Frauenvereine sowie der Synagogenvorsteher Jakob Wolff fanden. Noch war die jüdische Bevölkerung in der Lingener Stadtgesellschaft gut integriert. Es folgten Sammlungen von Geld, Kleidern und Nahrungsmitteln. Spendenaufrufe ergingen an die Bevölkerung: „Dunkel und unheildrohend liegt die Zukunft vor uns. Das Heer der Arbeitslosen wächst! Die Not steigt, die Not unter den Arbeitslosen, den Rentnern, den Kriegsopfern, Witwen und Waisen! Mit Bangen sehen sie dem Winter entgegen.“ - „Ist es Dein Verdienst, dass Du noch Arbeit und Dein Auskommen hast, gesund und rüstig bist? Nein. Dann ist es Deine unumgängliche Pflicht (…) zu helfen.“ Kritik kam allerdings seitens der Lingener KPD. Die Armen bräuchten nicht die Mildtätigkeit der Reichen, sondern Brot und Arbeit. Ohnehin war die Aktion nur für einen Winter geplant. Im Mai 1932 löste sich die Notgemeinschaft wieder auf.
Die Arbeitslosigkeit stieg unterdessen weiter an. 1927, also noch vor der Weltwirtschaftskrise, hatte es in Lingen lediglich 245 Arbeitslose gegeben. Im September 1931 waren es bereits 511 Arbeitslose, ein Jahr später 806. Mit einer Arbeitslosenquote von zuletzt 19 Prozent erreichte Lingen einen der höchsten Werte in Nordwestdeutschland.
Nicht zuletzt befeuerte die Weltwirtschaftskrise den Aufstieg des Nationalsozialismus. Am 5. März 1930 gründete sich eine Lingener Ortsgruppe der NSDAP. Bei den Reichstagswahlen im September erhielt die NSDAP in Lingen 8,1%, viermal mehr als vor der Krise. Im Oktober 1931 verfügte die Lingener Ortsgruppe bereits über 50 Mitglieder. Die Honoratioren der alteingesessenen Bürgerschaft taten sich zunächst schwer mit der Partei. Im Laufe des Jahres 1932 schwanden ihre Vorbehalte jedoch zunehmend, und das Lingensche Wochenblatt schwenkte offen auf einen nationalsozialistischen Kurs um. Bei den Reichstagswahlen Ende Juli 1932 erreichte die NSDAP in Lingen 22,2%, im November 1932 fiel sie dem deutschlandweiten Trend entsprechend auf 18% zurück. Als Hitler zwei Monate später zum Reichskanzler ernannt wurde, befanden sich die Nationalsozialisten in Lingen noch in der Minderheit. Die Machtverhältnisse sollten sich bald ändern.
Quellen und Literatur