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Archivalie - November 2018

Die Reichspogromnacht in Lingen
Die Trümmer der niedergebrannten Synagoge.

Das Attentat auf den Legationssekretär von Rath durch den siebzehnjährigen Herschel Grynszpan nutzt Propagandaminister Goebbels am Abend des 9. November 1938 zu einer Hetzrede, in der er auch die schon stattgefundenen antisemitischen Ausschreitungen lobt. Die versammelten Gauleiter und SA-Führer verstehen dies als indirekte Aufforderung, weitere Übergriffe zu organisieren. Ab etwa 22:30 Uhr instruieren sie telefonisch ihre jeweiligen Dienststellen. Jüdische Geschäfte sollen von der SA zerstört, Synagogen in Brand gesetzt und von SA-Leuten bewacht werden. Polizei und Feuerwehr sollen nicht eingreifen, sondern lediglich die Nachbarhäuser schützen. Außerdem sollen Schilder aufgestellt werden, um auf das Geschehene hinzuweisen. Die Order der Gaustelle Nordsee erreicht Lingen vermittels der SA-Brigade Osnabrück. Der Lingener Standartenführer Brungers erhält den Befehl offiziell erst zwischen 4:00 Uhr und 4:30 Uhr. Zu diesem Zeitpunkt steht die Lingener Synagoge aber längst in Flammen.
 
Tatsächlich erscheint Brungers schon um 23:00 Uhr auf der Polizeiwache im Stadthaus, um den Leiter der Lingener Dienststelle Robert Schmeling zu sprechen. Da der aber dienstfrei hat, ruft Brungers ihn zu Hause an. Der Inhalt des Telefonats ist unbekannt. In Lingen findet gerade – wie in anderen Städten auch – eine Gedenkfeier der NSDAP anlässlich des Putschversuchs vom 9. November 1923 statt. Dazu hat man sich auf der Wilhelmshöhe versammelt. Die Feierlichkeiten enden nach Mitternacht.

Zwischen ein und zwei Uhr wird die Synagoge von der Lingener SA in Brand gesetzt. Gegen zwei Uhr erscheint ein Mann auf der Polizeiwache und meldet ein Feuer in der Stadt. Einer der beiden diensthabenden Polizisten geht daraufhin durch die Stadt und lokalisiert den Brand im Gertrudenweg. Sein Kollege Josef Jendryschek ruft daraufhin Polizeimeister Schmeling zu Hause an, doch der ist bereits von einem Nachbarn informiert und erklärt, alles weitere zu veranlassen. Schmeling ruft nun – so wird er später aussagen – Bürgermeister Plesse an. Der erklärt, alles Erforderliche bereits veranlasst zu haben. In den nächsten Stunden geschieht jedoch nichts. Weder Schmeling noch Plesse informieren die Feuerwehr.

Erst gegen 5:00 Uhr wird der SA-Sturmbannführer Heinrich Helfers von SA-Obersturmtruppführer Wilhelm Beckmann geweckt. Auf der Polizeiwache erhält Helfers dann den Befehl, den Feuerwehrmann Johann Erdbrinck zu wecken. Als Erdbrinck die Wache erreicht, wird er angewiesen, trotz des Brandes keinen Feueralarm zu geben. In Begleitung von SA-Leuten, die ihm der SA-Sturmbannführer Johann Hollmann mitgegeben hat, begibt sich Erdbrinck daraufhin zur brennenden Synagoge. Die SA riegelt das Gelände ab. Obwohl das Feuer schon seit Stunden brennt, beschränkt es sich bis jetzt noch auf das Innere der Synagoge. Erst als einige SA-Leute gegen 6:00 Uhr mit einem schweren Stück Holz die Synagogentür aufstoßen, lässt der Luftzug das Feuer um sich greifen. Bald steht die Synagoge vollständig in Flammen. Jetzt etwa treffen die ersten Feuerwehrleute ein. Unter ihnen ist auch der Gerätewart der Feuerwehr, Karl Kremer. Er erinnert sich: „Als wir die Schläuche angeschlossen hatten und löschen wollten, kam der Befehl, dass die Synagoge nicht zu löschen sei“. Deshalb beschränken sie sich darauf, ein Übergreifen des Feuers auf die Nachbarhäuser zu verhindern. Auch das Schulgebäude bleibt verschont; es grenzt allzu nah an die anderen Gebäude.

Als zwischen 7:30 Uhr und 8:00 Uhr die ersten Arbeiter und Schüler vorbeikommen, stehen von der Synagoge nur noch der Giebel und die Außenmauern. Da der Giebel auf die Straße zu stürzen droht, wird er von der Feuerwehr mit einer Kette eingelegt. Später wurden auch die Mauern zerstört. In den Trümmern stellt die Lingener SA schließlich ein Schild auf. Es trägt die Aufschrift „Hier stand einmal eine Synagoge“. Im Dienstprotokoll der Lingener Polizei vermeldet Wachtmeister Fritz Scheel für die Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 „keine besonderen Vorkommnisse“. Über die Brandursache soll Bürgermeister Plesse bemerkt haben, die Juden hätten vermutlich die Gasheizung nicht richtig abgestellt.

Gegen 6:00 Uhr beginnt die SA, zum Teil mit Unterstützung der Polizei, mit der Verhaftung jüdischer Einwohner. Innerhalb von zwei Stunden werden 19 Männer und Frauen festgenommen und auf die Polizeiwache gebracht. In das Haus von Neumann Okunski dringt die SA über das Kellerfenster ein. Er wird nur unvollständig bekleidet mit Gewalt abgeführt. Wilhelm Heilbronn entgegnet bei seiner Festnahme, als ausgezeichneter Kriegsteilnehmer wolle er nicht als Gefangener durch die Stadt geführt werden. Obersturmtruppführer Beckmann erlaubt ihm, mit einem gewissen Abstand auf der anderen Straßenseite auf die Polizeiwache zu gehen. Auf Anordnung der Dienststelle durchsucht Polizeihauptwachmeister Brand auch die Wohnungen von Gustav Rosenbaum und Jeanette Herz in der Wilhelmstraße 21. Als letztere versucht, ein Gebetbuch zu verbergen, wird das Buch samt enthaltenem 50-Mark-Schein konfisziert und Jeanette Herz ebenfalls festgenommen. Das Textilgeschäft Markreich in der Großen Straße, das letzte noch bestehende jüdische Geschäft in Lingen, wird zerstört. SA-Leute treten die Schaufenster ein und werfen die Geschäftsbücher auf die Straße. Waren werden mit Handwagen zur NS-Volkswohlfahrt gebracht. Außerdem wird eine Geldkassette entwendet. Auch Zivilisten sollen sich an den Plünderungen beteiligt haben. Bis zum Abend bezieht die SA vor dem Gebäude Posten.
 
Im Laufe des Vormittags werden die meisten Gefangenen wieder freigelassen. Sechs Gefangene aber – Bendix Grünberg, Hugo Hanauer, Wilhelm Heilbronn, Fredy Markreich, Neumann Okunski und Jacob Wolff – bleiben inhaftiert. Grünberg, Hanauer und Heilbronn werden Geld, Schlüssel und Uhr abgenommen. Fredy Markreich unterzeichnet noch am selben Tag, begleitet von Polizeibeamten, mit seinem Nachbarn Droop vor einem Notar den schon zuvor geplanten Verkauf seines Hauses.

Am nächsten Tag um 11:30 Uhr werden die sechs Gefangenen von der SS abgeholt und in das KZ Buchenwald überführt. Nach Wochen, teils erst nach Monaten kehren sie abgemagert, kahlgeschoren und verstört nach Lingen zurück. Sie wurden nur unter der Bedingung entlassen, sofort ihre Ausreise zu betreiben. Unter Androhung der Todesstrafe war ihnen verboten, über ihre Hafterlebnisse zu berichten.

Einige Monate später, am 3. April 1939 verkaufen Jacob Wolff und Wilhelm Heilbronn im Namen der Synagogengemeinde das Grundstück am Gertrudenweg mitsamt Schulgebäude an den Postinspektor im Ruhestand Fritz Hänschen und den Bäckermeister Anton Kemper für 1168 Reichsmark. Bis der Verkauf rechtskräftig ist, vergeht aber noch ein Jahr. Die Trümmer der Synagoge werden schließlich von der Kanalverwaltung abgeholt und für Böschungen und Leinpfadwege verwendet. Ein Verfahren gegen vier an den Ausschreitungen des Lingener Novemberpogroms beteiligten Personen – Schmeling, Beckmann, außerdem die nur am Rande involvierten Weber (als Chauffeur des Standartenführers Brungers) und Windels (als Telefonist im Standartenbüro) – wird schließlich eingestellt. Lediglich der SA-Standartenführer Brungers wird 1950 im Rahmen des Nordhorner Synagogenprozesses vom Landgericht Osnabrück zu zwei Jahren Haft verurteilt.

Quellen und Literatur

  • Stadtarchiv Lingen, Allgemeine Sammlung, Nr. 1140.
  • Stadtarchiv Lingen, Altes Archiv, Nr. 6515, Nr. 6516.
  • Stadtarchiv Lingen, Fotosammlung, Nr. 1223.
  • Stadtarchiv Lingen, Lingener Tageblatt vom 24.2.1950.
  • Stadtarchiv Lingen, Materialsammlung, Nr. 38d.
  • Münchow, Manfred/ Remling, Ludwig: Synagogenbrand am Gertrudenweg. Der Feueralarm wurde verboten, in: Lingener Tagespost vom 9.11.1988.
  • Remling, Ludwig: Art. „Lingen“, in: Obenaus, Herbert (Hg.): Historisches Handbuch der jüdischen Gemeinden in Niedersachsen und Bremen, Göttingen 2005, S. 993-1001.
  • Scherger, Gertrud Anne: Verfolgt und ermordet. Leidenswege jüdischer Bürger in der Emigration, während der Deportation, im Ghetto und in den Konzentrationslagern. Beitrag zur Verfolgungsgeschichte der Juden aus dem Raum Lingen, Lingen 1998.
  • Silies, Hermann: In Nachbarschaft der Lingener Synagoge, in: Kivelingszeitung 1978, S. 93.


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