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Seit 1873 war die Stadtverwaltung in dem sogenannten Stadthaus auf dem Marktplatz untergebracht, einem bereits 1651 errichteten Gebäude, das zunehmend vom Einsturz bedroht war und den Erfordernissen einer ständig wachsenden Stadt immer weniger gerecht werden konnte. Nach 1950 wurde eine Abteilung nach der anderen ausgelagert, so dass die Stadtverwaltung schließlich auf zehn Standorte verteilt war.
1947 wurde ein Architektenwettbewerb für den Neubau des Verwaltungsgebäudes ausgeschrieben, doch für die Umsetzung fehlte das Geld. 1953 wurde erneut ein Neubau diskutiert. Drei Standorte wurden diskutiert, und in einer Bürgerbefragung sprachen sich fast drei Viertel der Wähler für den Standort des alten Stadthauses am Markt aus. Die anderen Stimmen entfielen auf das Grundstück des früheren Bauhofes an der Hafenstraße und den alten Pferdemarkt. Doch das Ergebnis war umstritten. Der Markt bot wenig Platz, und letztlich waren dann doch andere Bauprojekte – Schulen, Straßen, Kanalisation – wichtiger. 1956 veranstaltete man einen zweiten Wettbewerb, und von den 129 eingesandten Entwürfen wurde dem der Architekten Rotermund und Sommer der erste Platz zuerkannt. Rotermund und Sommer verwarfen alle drei diskutierten Standorte zu Gunsten eines Neubaus an der Elisabethstraße. Sie erhielten den Auftrag zur weiteren Entwurfsbearbeitung. Nach zwei Vorentwürfen legten sie im April 1964 den finalen Entwurf vor.
Im Mai stimmte der Rat dem Bau eines sechsstöckigen Gebäudes zu. Durchgeführt werden sollte das Vorhaben in drei voneinander getrennten Bauabschnitten. Der Rat drängte auf baldigen Baubeginn, und so erfolgte am 7. September der erste Spatenstich. Die Arbeiten liefen schon seit über zwei Wochen, da beschloss der Stadtrat, alle drei Bauabschnitte doch zeitgleich zu realisieren. Außerdem sollte der Sitzungssaal nun rechts neben dem Verwaltungsgebäude errichtet werden, obwohl er ursprünglich mit dem Verwaltungsgebäude und der an der Neuen Straße gelegenen Ladenzeile einen Innenhof bilden sollte. So entstand ein – ursprünglich überhaupt nicht geplanter – offener Vorplatz. Ein gutes Jahr später konnte man im September 1965 zum Richtfest einladen. Eine darüber ausgestellte Urkunde appellierte an die Bürgervertreter, „die Grundlagen für eine Lebensgemeinschaft in einer christlichen Lebensordnung“ zu legen, und zu den Feierlichkeiten gehörte gemäß Programmzettel auch das „Deutschlandlied (3. Strophe)“.
Was in den nächsten Monaten passierte, sollte später für erregte Diskussionen sorgen und Thema eines Untersuchungsausschusses werden. Am 26. Oktober wurde dem Bauamt mit Blick auf die Ausschreibungsunterlagen klar, dass die von Architekt Sommer vorveranschlagten Baukosten von 3,44 Millionen DM voraussichtlich deutlich übertroffen werden würden. Man wies Sommer auf seine Verantwortung hin, die Kosten nicht zu überschreiten, und forderte eine unverzügliche Aufstellung der tatsächlich zu erwartenden Kosten. Nach einigem Hin und Her antwortete Sommer am 23. November mit einer Kostenaufstellung über 4 Millionen DM. Als Gründe für die Mehrkosten gab er an, dass der schlechte Baugrund die Kosten in die Höhe getrieben habe. Da es möglich sein sollte, das Verwaltungsgebäude gegebenenfalls auf zehn Etagen zu erhöhen, mussten außerdem die Hochhausvorschriften eingehalten werden. Außerdem seien Löhne und Gehälter im lokalen Baugewerbe stärker gestiegen als erwartet.
Am 29. November informierte das Bauamt den Stadtkämmerer. Der telefonierte noch am selben Tag mit Stadtdirektor Pelz. Doch Pelz missverstand die Angelegenheit. Er glaubte, es ginge nicht um Mehrkosten, sondern um die ähnlich hohen Einrichtungskosten. Sie verabredeten eine gemeinsame Besprechung am 2. Dezember, doch dann hatte Pelz einen Unfall, und die Besprechung fiel aus. Der Kämmerer ging nun in Urlaub, und damit ruhte das Thema. In einer Besprechung am 22. Dezember kam es nicht zur Sprache. Erst am 10. Januar 1966 warf Stadtdirektor Pelz zufällig einen Blick in die Akte des neben ihm sitzenden Ingenieurs und entdeckte Sommers Kostenaufstellung. Und jetzt verstand auch er. Bis auch der Verwaltungsausschuss informiert wurde, vergingen jedoch weitere 14 Tage.
Auf Antrag der SPD fand daraufhin am 31. Januar eine außerordentliche öffentliche Ratssitzung auf der Wilhelmshöhe statt. Wichtigster Tagesordnungspunkt: Die Mehrkosten des Rathausneubaus. Das Echo in der Bevölkerung war gewaltig. Man saß auf Fensterbänken und Tischen, und viele fanden gar nicht erst Einlass. Die Lingener seien immer zur Stelle, so bemerkte Bürgermeister Koop, wenn es um ihr Geld ginge. Was nun folgte, war eine vierstündige Debatte. Sommer räumte durchaus ein, die vertraglichen Bedingungen gegenüber der Stadt nicht eingehalten zu haben, bemerkte aber auch, dass sich auf dem kommunalen Baumarkt ohnehin niemand mehr an gesetzliche Vorschriften halte. Zudem kritisierte er die Stadtverwaltung. Mehrmals habe er mit halbfertigen Entwürfen arbeiten müssen, von Verwaltung und Rat kämen ständig neue Pläne, doch niemals endgültige Beschlüsse. Bei Baubeginn sei noch nicht einmal die Raumfrage endgültig geklärt gewesen. Der Zeitdruck habe da eine genaue Kostenberechnung schlicht nicht zugelassen. Und so sei er von lediglich 147 DM pro Kubikmeter umbauten Raumes ausgegangen, „obwohl wir wußten, daß im Baugrund der Teufel drinsteckt“.
Tatsächlich entstand auf der Sitzung der Eindruck einer bemerkenswert uneinheitlichen Verwaltung – nicht zuletzt zur Belustigung des Saales. Erst während der Debatte wurde deutlich, dass die Mehrkosten von rund 550.000 DM durch diverse Einsparungen tatsächlich nur rund 350.000 DM betrugen. Für Verwirrung sorgte auch, dass ein Ausschussprotokoll die Bodenverhältnisse ursprünglich als günstig bewertet hatte. Breit diskutiert wurde insbesondere die Frage, wann Pelz zum ersten Mal von den Mehrkosten erfahren habe. Auf all diese Widersprüche reagierten die Fraktionen mit seltener Einmütigkeit: Einstimmig wurde die Einrichtung eines Untersuchungsausschusses gefordert. Die Leitung sollte CDU-Ratsherr Badry übernehmen. Eine solche Sitzung, so schloss Bürgermeister Koop die Veranstaltung, habe er in seinen fünfzehn Dienstjahren bisher nicht geleitet.
Am 27. September legte der Untersuchungsausschuss seine Ergebnisse öffentlich vor. Demnach habe der Architekt Sommer bereits im Sommer 1965 höhere Kosten befürchtet. Die nach Aussage Sommers seitdem mit dem Bauamt darüber stattfindenden Gespräche aber wollte das Bauamt nicht bestätigen. Auch die Begründungen Sommers wies der Ausschuss zum Teil zurück. Der allgemeine Preisanstieg von 13% sei zu vernachlässigen, da 10% ohnehin von Anfang an einkalkuliert waren. Verschiedene Planänderungen habe es zwar gegeben, doch seien sie alle nicht kostenrelevant. Der Untersuchungsausschuss kritisierte aber auch die Verwaltung. Warum zum Beispiel habe man nicht sofort nach Bekanntwerden umfassender informiert? Und warum habe der Baurat die Mehrkosten für die Waschbetonverblendung ursprünglich mit 80.000 bis 90.000 DM angegeben, obwohl sie schließlich bei fast 130.000 DM lagen? Auch die Ergebnisse des von der Stadt beauftragten Kommunalprüfungsamtes der Regierung in Hildesheim lagen nun vor. Das kam zu dem Schluss, dass Sommers ursprüngliche Kostenberechnung völlig unzureichend und jenseits der üblichen Normen war. Vielmehr habe er sich schlicht auf Erfahrungswerte verlassen. Eine Kostenberechnung erfolge gewöhnlich auf Basis der Ausschreibungen, die damals aber noch gar nicht vollständig vorlagen. Bemerkenswerterweise habe die Stadtverwaltung das aber auch nie moniert. Damit fehlte Sommer ein zuverlässiger Kostenüberblick.
Letztlich wurde kein Geld verschwendet, es wurde lediglich falsch kalkuliert. Als Preistreiber erwies sich tatsächlich der schlechte Baugrund, der aus Feinsand bestand und erst in 4,80 Meter Tiefe tragfähige Schichten erreichte. Schließlich sagte das Land Niedersachsen, das das Projekt bereits mit 200.000 DM unterstützte, zu, sich an den Mehrkosten mit weiteren 200.000 DM zu beteiligen. Und so konnte am 5. Dezember 1966 das neue Rathaus eingeweiht werden. Auch Architekt Sommer nahm an den Feierlichkeiten teil. Mit insgesamt rund vier Millionen Mark Kosten, so Sommer, habe man mit bescheidenen Mitteln ein Maximum an Leistung erreicht. Er erhielt keinen Widerspruch. Tatsächlich hatte man auf kostspielige Finessen bewusst verzichtet. Die Stadt aber hatte nun ein Ratshaus, in dem alle Abteilungen wieder unter einem Dach zusammenfanden und das seitdem die zentrale Anlaufstelle für alle Bürger ist. „Auch für Lingen soll gelten“, so verkündete Bürgermeister Koop bei der Einweihung, „Geht dir der Rat aus, gehe zum Rathaus.“
Quellen und Literatur