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Am 26. April 1986 ereignete sich in Tschernobyl der schlimmste Nuklearunfall der Geschichte. Infolge des stark radioaktiven Regens insbesondere in Bayern war die Milch und um so mehr die bei der Käseherstellung zurückbleibende Molke stark belastet. Der bayrische Konzern Meggle trocknete die Molke zu 5046 Tonnen Molkepulver zusammen und lagerte sie in 242 von der Deutschen Bundesbahn gemieteten Bahnwaggons ein, die fortan durch die Republik irrten. Schließlich kaufte Bundesumweltminister Wallmann die Molke für 3,8 Millionen Mark und übergab sie der Bundeswehr, die die Waggons gegen den Widerstand der Bevölkerung vorläufig in Meppen und Straubing unterbrachte. Und weiter?
Diskutiert wurde eine Entsorgung in der Tschechoslowakei, in Bulgarien, Polen oder auch in einer hessischen Molkerei. Schließlich nahmen Wallmanns Nachfolger Töpfer und der niedersächsische Umweltminister Remmers Gespräche mit der Stadt Lingen auf. Der Plan war, das Molkepulver mit Hilfe des bisher nur unter Laborbedingungen erprobten Roiner-Verfahrens zu dekontaminieren. Demnach sollte das radioaktive Pulver in Flüssigkeit aufgelöst und durch Ionenaustausch von Cäsium 137 gereinigt werden. Übrig bleibe zum Schluß fast saubere Molke und ein hochgradig kontaminierter Rest von zwei bis fünf Prozent der Gesamtmenge. Eine entsprechende Anlage sollte im Maschinenhaus des 1977 stillgelegten Atomkraftwerks errichtet werden. Das Molkepulver hatte eine Cäsiumbelastung von etwa 5800 Becquerel pro Kilogramm – gut dreimal so hoch wie der EG-Grenzwert. Eine Gefährdung der Lingener Bevölkerung schien nicht zu befürchten.
Dennoch regte sich in der Bürgerschaft massiver Widerstand. Ende September 1987 forderten etwa 70 Demonstranten „Zur Hölle mit der Molke!“ Kritiker sahen die Gefahr, dass die Risiken der kontaminierten Molke verharmlost werden, der Bevölkerungswille ignoriert werde und das ungelöste Entsorgungsproblem letztendlich dazu führe, dass Lingen zu einer Art Entstrahlungszentrum werde. Einen Monat später erklärte Töpfer auf einer Bürgerversammlung auf der Wilhelmshöhe, dass das Molkepulver nur mit Zustimmung des Stadtrates kommen werde, in dem die das Verfahren befürwortende CDU allerdings die absolute Mehrheit bildete. Die Grünen forderten die Lingener daraufhin auf, ihre CDU-Vertreter im Stadtrat einfach mal anzurufen. Bürgeraufrufe erschienen in der Zeitung, und eine inzwischen gegründete „Bürgergemeinde gegen Strahlenmolke“ rief am 14. November zu einer Demonstration und Großkundgebung auf den Lingener Marktplatz. Es kamen – je nachdem, wen man fragt – zwischen 3000 und 6000 Menschen. Zugleich wurde ein Bürgerantrag initiiert, der schließlich von 11.442 Wahlberechtigten unterzeichnet wurde.
Am 9. Dezember wurde der Bürgerantrag nach fast fünfstündiger Debatte in geheimer Abstimmung abgelehnt. 25 Stimmen – exakt der Stimmenumfang der CDU-Fraktion – votierten für die Molke, 12 Stimmen – der Stimmenumfang von SPD, Grüne und UWG – votierten gegen sie. Am 10. Juni 1988 schloss die Stadt mit dem Bundesumweltministerium, dem niedersächsischen Umweltministerium, der mit der Durchführung beauftragten Firma Noell und den VEW als Eigentümer des stillgelegten Kraftwerks einen Vertrag. Die Dekontamination sollte stattfinden, allerdings zunächst zur testweise für neun Monate und 40 Tonnen Molkepulver. Erst danach wurde auch die verbleibende Molke zur Reinigung freigegeben. 13 Millionen Mark waren für die Durchführung veranschlagt. 40 Millionen sind es schließlich geworden. Im Dezember 1990 erreichten die letzten sechs der 242 Eisenbahnwaggons Lingen, und so konnte die Dekontamination endlich abgeschlossen werden. Allerdings nicht von 5046 Tonnen, sondern nur von nicht einmal 5000 Tonnen. Wo der Rest geblieben ist, ist immer noch unklar. Danach wurde die Anlage jedenfalls wieder abgebaut. 178 Fässer Cäsium wurden in die Kernforschungsanlage Karlsruhe überführt, die zurückgebliebene und nach wie vor schwach radioaktive Molke ans Vieh verfüttert.
Quellen und Literatur