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Archivalie - Oktober 2018

Sinti und Roma in Lingen (Teil 2)
Die Bleiche mit Kleinbahnschienen und Feuerwehrhaus im Jahre 1929.

Wenn sich an der Wende zum 20. Jahrhundert Roma in Lingen aufhielten, schlugen sie ihr Lager häufig auf der Bleiche nahe des Alten Friedhofs und des Neuen Hafens auf. Eine Zeitzeugin erinnert sich: „Im Halbkreis standen die Wagen und in der Mitte schwelte das Holzfeuer zum Kochen. Im trockenen Gras saßen alte und junge Zigeunerweiber und rauchten lange Pfeifen. Lange, bunte Röcke trugen die jungen Zigeunermädchen und ich sah ihre dunklen Füße. Die Jungen trugen kurze Hosen und die Beine waren frei.“ Ein weiterer Lagerplatz befand sich in Darme am Weg zum heutigen Heimathaus. Solange sie sich dort aufhielten, mussten die Kinder die Darmer Volksschule besuchen.
 
Soweit bekannt, hatten damals keine Sinti- und Romafamilien ihren Erstwohnsitz in Lingen. Doch gab es Roma, die hier geboren wurden. In der Lingener Strafanstalt (Georgstr. 5, Stadtflur Nr. 232) und in Anwesenheit einer Hebamme erblickte am 16. März 1891 um 4 Uhr morgens Hedwig Schmidt das Licht der Welt. Ihre Eltern waren Anna Schmidt geb. Hartmann und der Handelsmann Heinrich Schmidt, beide katholischer Konfession und wohnhaft in Solingen. Franz Lübke stammte aus der Gemeinde Hacheney bei Dortmund, war Handelsmann und im Besitz eines Wandergewerbescheins. Ihm wurde am 15. November desselben Jahres ein Sohn namens Hermann geboren. Die Geburt erfolgte „in Lingen im Wohnwagen des Handelsmann in der Nähe der Bleiche“. Das Leben auf Wanderschaft war hart. Über die Kältewelle des Jahres 1929 berichtet die Chronik der evangelischen Schule Brögbern-Brockhausen: „Am 10. Februar setzte große Kälte ein, wie seit 100 Jahren nicht gewesen. Viel Wild, Bäume, auch Menschen, Zigeuner, welche keine Unterkunft finden konnten, Kinder im Bett sind erfroren.“

Hinzu kamen Repressionen seitens der Behörden. In den 1920er Jahren einigten sich die Behörden in Aurich, Osnabrück, Papenburg und Lingen darauf, dass alle Fahrenden, insbesondere die sogenannten „Zigeuner“, sofort abzuschieben oder mit einem Standgeld für ihren Lagerplatz zu belegen seien, das so hoch liegen sollte, dass es nicht mehr entrichtet werden könnte.

Die Diskriminierung nahm im Nationalsozialismus massiv zu. Ab 1936 galt in den Kreisen Aschendorf-Hümmling und Meppen eine Polizeiverordnung, nach der „Zigeunern und den nach Zigeunerart mit Wohnwagen umherziehenden Personen sowie hausierenden Ausländern“ die Durchreise und der Aufenthalt verboten war. In einem Schreiben vom 5. Juli 1938 forderte der Lingener Landrat dasselbe für den Kreis Lingen. „Sehr oft“ würden sich in der Stadt Lingen „Zigeuner“ aufhalten, „besonders anlässlich der vielen Pferdemärkte in Lingen. (…) Nachweislich verschleppen die Zigeuner Viehseuchen.“ Die größte Gefahr sah der Landrat allerdings in möglicher „Spionage“. „Ein Zigeuner begeht bekanntlich für Geld jede strafbare Handlung. (…) Der Zigeuner eignet sich besonders zum Spion, da er ein verschlagener Naturmensch ist und leider immer noch mit seinem Wandergewerbeschein ungehindert durch die Gegend streifen kann.“
 
Durch die Grenznähe könnten Informationen leicht ins Ausland gebracht werden. Zudem sei Lingen Garnisonsstadt. So würden etwa „Zigeunerbanden“ oft die Straße von Lingen nach Lohne nutzen, um nach Bentheim zu kommen, und dabei auch den Übungsplatz der Garnison passieren. Der Regierungspräsident folgte schließlich der Empfehlung der Gestapo, die die Sperrung des Kreises Lingen „nicht für unbedingt erforderlich“ hielt. „Man könne nicht alles zum Sperrgebiet machen“. Der Antrag des Lingener Landrats wurde abgelehnt.

Parallel zur Shoa fand auch der Porajmos, der Völkermord an den europäischen Roma statt. Nach einer ersten Verhaftungswelle 1938 wurden 1940 mehrere hundert niedersächsische Sinti deportiert. Im Februar 1943 wurde im Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau ein eigenes „Zigeunerlager“ eingerichtet. Einen Monat später folgte eine weitere Deportationswelle. Der in Osnabrück für die Deportation verantwortliche Polizist „Julius“ stand nach dem Krieg im Dienste der Lingener Polizei. Er leugnete jede Beteiligung am Massenmord und wurde nicht belangt, sondern vielmehr als Sachverständiger zu Entschädigungsprozessen herangezogen.
 
Deportationen aus Lingen sind nicht bekannt, doch befand sich eine in Lingen geborene Romni unter den Opfern. Am 3. November 1943, vor fast 75 Jahren also, starb die nunmehr 52jährige Hedwig Schmidt – inzwischen Schmidt-Franz – im „Zigeunerlager“ von Auschwitz. Die genaue Zahl der Opfer des Porajmos ist nicht bekannt. Schätzungen gehen von mindestens 200.000 Ermordeten aus. Entschädigungsanträge wurden häufig abgelehnt. Noch heute bilden Roma die am stärksten diskrimierte Minderheit Europas.

Quellen und Literatur:

  • Stadtarchiv Lingen, Albensammlung, Nr. 45.
  • Stadtarchiv Lingen, Allgemeine Sammlung, Nr. 714.
  • Stadtarchiv Lingen, Altes Archiv, Nr. 683.
  • Stadtarchiv Lingen, Fotosammlung, Nr. 507.
  • Stadtarchiv Lingen, Kultur, Nr. 170.
  • Stadtarchiv Lingen, Personenstandsregister, LIN G 1891, Nr. 47.
  • Stadtarchiv Lingen, Sammlung Schulchroniken, Nr. 22.
  • Fings, Karola: Sinti und Roma. Geschichte einer Minderheit, München 2016.
  • Katholische Erwachsenenbildung im Lande Niedersachsen e.V. (Hg.): Aus Niedersachsen nach Auschwitz. Die Verfolgung der Sinti und Roma in der NS-Zeit. Projektbericht über eine Wanderausstellung des Niedersächsisches Verbandes deutscher Sinti, Hannover 2003/05.
  • Reinmuth-Neumann, Tilly: Jugenderinnerungen aus längst vergangenen Tagen, in: Kivelingszeitung 1987, S. 129-131.
  • State Museum of Auschwitz-Birkenau (Hg.): Gedenkbuch. Die Sinti und Roma im Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau, München e.a., 1993.


Zdjęcia od góry od dołu: Stadtarchiv, k.A.