Im 17. Jahrhundert hatten die reformierten Oranier in der Grafschaft Lingen die Classis Lingensis eingeführt. Es war das oberste kirchenpolitische Gremium der Grafschaft. Die Preußen behielten im 18. Jahrhundert die Classis bei, obwohl sie einseitig reformiert ausgerichtet war, während die Mehrheit der Bevölkerung dem katholischen Glauben anhing. Zugleich zogen unter der preußischen Herrschaft immer mehr lutherische Beamtenfamilien nach Lingen.
Am 9. Oktober 1751 wandten sich die reformierten Prediger Abraham Gottfried Melchior und Johannes Thomas Werndly mit einer Beschwerde an die Moderatoren der Classis. Mit Mißfallen hätten sie vernommen, dass der lutherische Prediger Naber ein reformiertes Pärchen getraut und die reformierten Geistlichen damit umgangen habe – für die beiden Prediger „ein unverantwortliches Unternehmen“. Zugleich hatten beide Prediger die Königlich Preußische Regierung in Lingen in Kenntnis gesetzt, und so wurde die Classis drei Tage später von der Regierung aufgefordert, über die Sache ein Gutachten abzuliefern. Und damit begann die Untersuchung des Falles. Prediger Naber reichte ein Rechtfertigungsschreiben ein. Schließlich wurde auch der Prediger Clinge, seines Zeichens Superintendent („Ministre de la Parole de Dieu“) in Freren, hinzugezogen.
Doch worum ging es eigentlich? Es ging um die Eheschließung zwischen Theodorus Meyerinck und Johanna Elisabetha Varlut. Theodorus Meyerinck war königlicher Rat, geistlicher Rentmeister und Advokat aus Lingen. Johanna Elisabetha Varlut, seine Verlobte, war kürzlich von Hanau nach Lingen gekommen. Geschlossen wurde die Ehe am 7. Juli 1751 von dem lutherischen Prediger Johann Anton Naber (unter ihm war die lutherische Gemeinde gegründet und die Kirche am Schulplatz erbaut worden), und zwar im Hause van Hovens, des Onkels der Braut. Johann Daniel van Hoven, der – in den Worten von Melchior und Werndly – „ein reformirter Consistorial R[ath] sein will“, hatte 1724 die Professur für Geschichte und Beredsamkeit an der Hohen Schule in Lingen übernommen und war seit 1739 Konsistorialrat mit Sitz und Stimme bei der Regierung. Sein Haus befand sich in der heutigen Henriette-Flatow-Straße und musste später dem Bau des Georgianums weichen.
Die Suche nach einem geeigneten Geistlichen hatte sich als recht schwierig erwiesen. Da waren zunächst einmal die beiden Prediger, die das ganze Verfahren ins Rollen gebracht haben: Melchior und Werndly. Beide – der 29jährige Melchior und der 86jährige Werndly – teilten sich die Stelle des zweiten Predigers in Lingen. Doch van Hoven schlug beide aus. Den Prediger Melchior wollte er nicht in seinem Haus haben, und dem Prediger Werndly wollte er die Sache – wohl in Anbetracht seines Alters – nicht abfordern. Die so Zurückgewiesenen hielten das für eine Ausrede. Denn van Hoven habe auch schon die reformierten Prediger Meierinck und Tüschede um die Eheschließung gebeten. Ein Jacobus Bernhard Meierinck ist 1745 als Geistlicher in Schapen erwähnt, ein Prediger Tüschede 1764/65 in Baccum. Doch sowohl Meierinck als auch Tüschede hatten abgelehnt. Sie wollten das verlobte Paar nicht trauen, weil sie „die Jfr. Braut wegen Schwachheit zum Heirathen incapax befunden“ hätten, und zwar sei sie „incapax propter paroxysmum“, also ungeeignet wegen ihrer (epileptischen?) Krampfanfälle. Und damit fiel die Wahl auf jemanden, der die bei der Heirat fälligen Stolgebühren nötiger hatte oder es einfach nicht so genau nahm: den lutherischen Prediger Naber. Eingetragen wurde die Ehe jedoch nicht ins lutherische Kirchenbuch, sondern ins reformierte.
Am 21. März 1752 kam aus Berlin Anweisung vom inzwischen über den Fall in Kenntnis gesetzten evangelisch-reformierten Oberkirchendirektorium: Dem Prediger Naber sei Weisung zu geben, daß er die besagte Eheschließung zur Ungebühr vorgenommen habe. Des weiteren habe sich Naber, um den reformierten Predigern nicht die ihnen zustehenden Einnahmen zu beschneiden, dergleichen bei entsprechender Ahndung künftig zu enthalten. In einem Schreiben vom 18. April 1752 wies die Lingener Regierung den Prediger Naber genau darauf hin.
Die Krankheit der Braut indes scheint den Vollzug der Ehe in keiner Weise behindert zu haben. Zwischen 1752 und 1760 gingen sechs Kinder aus der Verbindung hervor. Eine Tochter, die 1756 geborene Charlotte Marianne Elisabeth Meyerinck, trat 1774 ebenfalls in den Bund der Ehe. Sie heiratete Friedrich August Naber, den Sohn des lutherischen Predigers.
Quellen und Literatur