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Archivalie - Dezember 2020

Emma Wolff

Emma Wolff geb. Eisenstein

Als Emma Eisenstein erblickte Emma Wolff am 7. Juli 1878 in Büren das Licht der Welt. Ihre Eltern waren der Kaufmann Abraham Eisenstein (*1841) aus Alme, Kreis Brilon, und die aus Posen stammende Friederike Eisenstein (*1853), eine geborene Vogelsdorf. Emma hatte zwei Geschwister: einen älteren Bruder Benjamin (*1876) und eine jüngere Schwester Adelheid (*1892). Die Familie lebte zunächst bei Abrahams Vater in Büren. Doch um 1906 trennten sich ihre Wege. Benjamin zog mit seine Frau Emmi, eine geborene Lion, nach Köln. Die Eltern Abraham und Friederike zogen nach Lingen, erwarben als Wohnhaus die Marienstraße 4 und richteten im rechten Teil des Eckhauses Am Markt 1 das Textil- und Weißwarengeschäft Geschwister Eisenstein ein. Emma und Adelheid folgten ihren Eltern wohl nicht sogleich, sondern zogen zunächst nach Weener, wo Adelheid offenbar eine Lehre absolvierte. Erst im Mai 1910 kamen sie nach Lingen.

Nach dem Ersten Weltkrieg wurde die Familie von mehreren Schicksalsschlägen heimgesucht. Die Spanische Grippe suchte die Stadt heim, und unter den Lingenern, die Ende 1918 starben, war auch Emmas Schwester Adelheid. Am Vormittag des 29. Oktober starb die gerade 26jährige und unverheiratete Adelheid „nach schwerem Leiden“, wie ihre Todesanzeige verkündete. Nur zwei Jahre später, am 12. Mai 1920 starb Emmas Mutter Friederike mit fast 68 Jahren altersbedingt im Krankenhaus. Am 21. Juni 1922 starb schließlich auch Emmas Vater Abraham mit 81 Jahren an Altersschwäche. Infolge seines Todes blieb das Geschäft vom 26. Juni bis zum 1. Juli geschlossen.

Mit der Führung des Geschäftes stand Emma nun alleine da. Am 1. Juli, keine Woche nach der Beerdigung ihres Vaters, verkündete sie ihre Verlobung mit Jakob Wolff aus Trier. Die Hochzeit zwischen dem Kaufmann Wolff und der Geschäftsinhaberin Eisenstein fand am 12. September 1922 statt. Als Zeugen fungierten der Bäckermeister Moritz Wolff aus Hambuch und Emmas Bruder Benjamin, nunmehr in Gütersloh ansässig. Der ursprünglich aus Hambuch stammende Jakob Wolff (*10. Juli 1878) war bereits 44 Jahre alt, nur drei Tage jünger als Emma. Die Ehe blieb kinderlos. Den Textil- und Weißwarenhandel führten sie fortan aber gemeinsam weiter. Der Laden lief gut, litt aber zweifellos wie viele andere an dem Boykott jüdischer Geschäfte im April 1933. Mitte 1936 verkauften sie ihn an den Kaufmann Ferdinand John.

Bereits 1925 wurde Jakob Wolff zum Vorsteher der Lingener Synagogengemeinde gewählt. Er wird der letzte Träger dieses Amtes sein. 1928 und 1931 wurde er im Amt bestätigt. Im März 1934 wurde turnusmäßig erneut gewählt, doch die Zahl der Erschienenen war zu gering, um beschlussfähig zu sein. Erst bei einem zweiten Termin wurde Jakob Wolff von gerade einmal fünf Personen erneut im Amt bestätigt. Da in der Folgezeit keine Wahlen mehr stattfanden, blieb er de facto zeit seines Lebens im Amt.

Im Zuge der Reichspogromnacht wurde in der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 auch die Lingener Synagoge in Brand gesteckt. Am nächsten Morgen ließen SA und Polizei 19 jüdische Männer und Frauen in Schutzhaft nehmen. Auch Emma, Jakob und ihr Hausmädchen Erna Löwenstein wurden festgenommen. Die beiden Frauen konnten den Marktplatz nach wenigen Stunden wieder verlassen. Jakob aber wurde mit fünf anderen Männern für mehrere Wochen in das Konzentrationslager Buchenwald überführt. Nach seiner Rückkehr bemühte sich Jakob mit seinem Stellvertreter Wilhelm Heilbronn um den Verkauf des Synagogengrundstücks. Im April 1939 verkauften sie es an zwei Nachbarn. Der Verkauf bedeutete das faktische Ende der Synagogengemeinde. Danach trat sie nicht mehr in Erscheinung.

Emmas und Jakobs Wohnhaus, die Marienstraße 4, wurde im August 1939 in ein „Judenhaus“ umgewandelt. Im Laufe des Jahres 1941 wurden hier mehrere Familien zwangsweise einquartiert, so zunächst Wilhelm und Carolina Heilbronn. Im Laufe des Jahres 1941 folgten weitere Familien: Max und Johanne Hanauer, Josef und Rosa Heilbronn, Simon Schwarz und Siegfried Meyberg, im Januar 1942 schließlich auch die Familie Okunski. Die Wohnverhältnisse waren nicht nur sehr beengt, es mangelte auch an Lebensmitteln. Zeitweise hatte das Ehepaar Wolff auch zwei ledige Verwandte Jakobs in ihre Wohnung aufgenommen. Susanne Wolff (*27.3.1926) zog aber im September 1940 wieder aus, Hans Wolff (*22.7.1924), kehrte im Juli 1941 nach Hambuch zurück.

Seit seinem KZ-Aufenthalt war Jakob gesundheitlich angeschlagen. Er starb am 4. April 1941 in seiner Wohnung. Die offizielle Todesursache lautet Gehirnblutung und Herzmuskelschwäche. Er wurde heimlich nachts an einer unbekannten Stelle auf dem Jüdischen Friedhof begraben.

Die meisten Einwohner des „Judenhauses“ wurden am 11. Dezember 1941 von der Lingener Polizei nach Osnabrück gebracht. Mit dem sogenannten Bielefelder Transport wurden sie in das Ghetto Riga deportiert. Nur die Witwe Wolff und das Ehepaar Hanauer blieben zurück. Zwischen Februar und April 1942 wurden weitere Personen einquartiert: die Familie de Vries aus Haren, die Meppenerin Rosalie Baumgarten und Levi Sternberg.

Am 29. Juli 1942 wurden mit Ausnahme des Ehepaars Hanauer sämtliche Einwohner des „Judenhauses“, auch die 74jährige Emma Wolff und die noch immer im Krankenhaus lebende Pfründerin Henriette Flatow, deportiert. Am Lingener Bahnhof ist Emma noch einmal gesehen worden. Josefa Frommen geb. Möddel berichtet später: „Die Bahnhofshalle war gerappelt voll. In dem Gewühl entdeckte meine Mutter ein bekanntes Gesicht. ‚Ach, da ist ja Frau Wolff‘, sagte sie und ging auf diese zu. ‚Sprechen Sie nicht mit mir, Frau Möddel, es könnte Ihr Unglück sein‘, flüsterte Frau Wolff. ‚Wir wissen nicht, was aus uns wird und wohin wir gefahren werden.‘ Nie vergesse ich das blasse Gesicht mit den großen mandelförmigen Augen. Es war eine herzbewegende Szene.“

Die Fahrt ging zunächst nach Münster und dann weiter ins Altersghetto Theresienstadt. Fast zwei Jahre verbrachte Emma hier. Am 15. Mai 1944 wurde sie unter der Transportnummer DZ 2204 in das sogenannte Familienlager Theresienstadt in Auschwitz-Birkenau überführt. Bei den Ankömmlingen aus Theresienstadt fand keine Selektion statt, ihnen wurden nicht die Haare geschoren und die Verpflegung war vergleichsweise gut. In der Nacht des 11. Juli 1944 wurde das Familienlager aufgelöst, alle Insassen unter 18 und über 30 Jahren fanden den Tod in der Gaskammer. Unter ihnen war wohl auch Emma Wolff.

In Lingen blieb Emma Wolffs Tod unbekannt. Emmas zweiter Vorname Sara, den sie zu Jahresbeginn 1939 gemäß Verordnung anzunehmen gezwungen war, wurde vom Lingener Standesamt 1950 gestrichen. Erst im November 1950 erklärte das Lingener Amtsgericht Emma Wolff für tot. Als Todestag wurde der 8. Mai 1945, der Tag der bedingungslosen Kapitulation der Wehrmacht, festgesetzt. 1957 wurde das Wohnhaus in der Marienstraße 4 abgebrochen. 1996 wurde auf dem Jüdischen Friedhof für Emma und Jakob Wolff ein Gedenkstein aufgestellt.

Quellen und Literatur

  • Stadtarchiv Lingen, Altes Archiv, Nr. 5823
  • Stadtarchiv Lingen, Fotosammlung
  • Stadtarchiv Lingen, Karteisammlung, Nr. 9a
  • Stadtarchiv Lingen, Lingener Volksbote
  • Stadtarchiv Lingen, Lingensches Wochenblatt
  • Stadtarchiv Lingen, Personenstandsregister
  • Adreßbuch der Stadt und des Kreises Lingen an der Ems, 1925
  • Kuhrts, Lothar: Beitrag zur Geschichte der Juden im Raum Lingen, o.O. (1985).
  • Remling, Ludwig: Die Synagoge in Lingen (Ems), in: Landkreis Emsland (Hg.): Synagogen und jüdische Bethäuser im Emland, Meppen 2001,, S. 51-57.
  • Remling, Ludwig: Lingen (Ems) im Nationalsozialismus. Auf Spurensuche in der Innenstadt, ³2008
  • Scherger, Gertrud Anne: Der jüdische Friedhof in Lingen. Eine Dokumentation. Beitrag zur Geschichte der Juden aus dem Raum Lingen, Lingen 2009
  • Scherger, Gertrud Anne: Stolpersteine. Ein Wegweiser zu den Stolpersteinen für die verfolgten und ermordeten jüdischen Bürger der Stadt Lingen (Ems), ³2019
  • Scherger, Gertrud Anne: Verfolgt und ermordet. Leidenswege jüdischer Bürger in der Emigration, während der Deportation, im Ghetto und in den Konzentrationslagern. Beitrag zur Verfolgungsgeschichte der Juden aus dem Raum Lingen, Lingen 1998.


Artikeldatum: 2. Dezember 2020
Fotos v.o.n.u.: Stadtarchiv Lingen, Stadtarchiv Lingen, Stadtarchiv Lingen, Stadtarchiv Lingen, Stadtarchiv Lingen, Stadtarchiv Lingen