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Archivalie – August 2021

Willy Brandt

Willy Brandt auf der Treppe des Alten Rathauses. Neben ihm steht Senator Wilhelm Engelke. Links im Bild ist der Lingener SPD-Bundestagskandidat Willi Wolf. (Stadtarchiv Lingen)

Es war vor 60 Jahren, im Sommer 1961. Westdeutschland befindet sich im Bundestagswahlkampf. Gegen den inzwischen 85-jährigen Konrad Adenauer tritt als junger Herausforderer der Regierende Bürgermeister von Berlin Willy Brandt an. Brandt sieht sich in dieser Zeit immer wieder heftigen persönlichen Angriffen ausgesetzt. „Dieser Wahlkampf hat Wunden hinterlassen“, wird er später sagen. Seine Reiseroute führt ihn Ende Juli auch nach Lingen. Wenn er allerdings geglaubt hat, in Lingen mit ähnlich offenen Armen empfangen zu werden, wie sechs Jahre zuvor Adenauer, dann wird er enttäuscht.

Am 22. Juli erhält die Stadt Lingen eine Anfrage der SPD, Unterbezirk Emsland. Brandt wolle am 30. Juli das Emsland besuchen. Vormittags sei in Bentheim und Schüttorf ein Empfang beim jeweiligen Bürgermeister geplant. Mittags wolle Brandt auf dem Lingener Marktplatz eine kurze Rede halten, danach auf der Wilhelmshöhe speisen. Und nachmittags stehe noch ein Empfang durch den Nordhorner Bürgermeister und ein Kongress in Rheine auf dem Tagesplan. Man bitte darum, Willy Brandt auch in Lingen durch Rat und Verwaltung zu empfangen.

Der Lingener Verwaltungsausschuss, der zwei Tage später tagt, hat jedoch Vorbehalte. Zwar ist klar, dass es nicht um einen großer Empfang geht, sondern lediglich um eine kurze Begrüßung auf der Rathaustreppe und vielleicht einen Eintrag ins Goldene Buch der Stadt. Und immerhin handelt es sich um den Berliner Bürgermeister. Doch sieht man in Brandt vor allem einen SPD-Kanzlerkandidaten im Wahlkampf, und dem will der CDU-dominierte Verwaltungsausschuss kein Forum geben. Man stimmt mit vier zu zwei Stimmen gegen einen offiziellen Empfang Willy Brandts.

Bei der SPD-nahen Emsländischen Wochen-Rundschau stößt diese Entscheidung auf harsche Kritik. Sie spricht von „Engstirnigkeit“ und einem „beschämenden CDU-Beschluß“ und sieht den Willen der Bevölkerung mißachtet. Offenbar empfange das Lingener CDU-Stadtoberhaupt lieber SED-Funktionäre – eine Anspielung auf einen Zwischenfall, der sich rund ein Jahr zuvor zugetragen hat. Und die Rundschau resümiert: „Wieder einmal (…) ins Fettnäpfchen getreten“.

Am 30. Juli 1961, einige Minuten nach zwölf, erreicht Willy Brandt mit Mercedes und Polizeieskorte den Lingener Marktplatz. Und der war dicht gefüllt – eine „moralische Ohrfeige“ für die „CDU-Strategen im Lingener Rathaus“, wie die Wochen-Rundschau später befinden wird. Für Musik sorgt die Kapelle des Ausbesserungswerkes. An Kindern mit Berlinfähnchen vorbei erklimmt Brandt die Rathaustreppe, wo er empfangen wird – nicht von Bürgermeister Koop (CDU), sondern vom stellvertretenden Bürgermeister Engelke (SPD). Und der entschuldigt sich: die offiziellen Grüße der Stadt Lingen könne er nicht überbringen, lediglich die des SPD-Kreisvereins. Willy Brandt ergreift schließlich das Wort. Gut zu verstehen ist er nicht. Die Stadt hat es versäumt, die Große Straße und die Gymnasialstraße für den Autoverkehr zu sperren.

In seiner kurzen, nur rund 20-minütigen Rede beschwört Brandt die Freiheit Berlins. Niemals dürften in Berlin „die Lichter der Freiheit ausgehen“. Die Stadt sei eine „Schildwacht gegen den Kommunismus“. Man wolle „den Kopf nicht unter einer Gewaltherrschaft beugen“ und müsse deshalb „über alles Trennende hinweg zusammenfinden“. Dieses „Ringen um Selbstbestimmung“ sei „unser Beitrag zur Erhaltung des Friedens in der Welt“. Vor den Herausforderungen der „östlichen Welt“ könne man indes nur bestehen, „wenn wir die Bundesrepublik ausbauen zu einem beispielhaften Staat“. Schließlich dankt Engelke Brandt für seine Worte und schließt die Kundgebung. Genau zwei Wochen später beginnt der Bau der Berliner Mauer. Bei den Bundestagswahlen am 17. September kann die SPD einen Achtungserfolg verbuchen. Mehr aber auch nicht.

Quellen und Literatur

  • StadtA LIN, Allg. Verw., Nr. 644
  • StadtA LIN, AP, Verw 1961
  • StadtA LIN, Fotosammlung, Nr. 2117
  • StadtA LIN, Lingener Volksbote vom 28.7. und 31.7.1961


Artikeldatum: 4. August 2021
Fotos v.o.n.u.: Stadtarchiv Lingen, Stadtarchiv Lingen, Stadtarchiv Lingen, Stadtarchiv Lingen