Vor hundert Jahren befinden sich die Lingener Handwerker und Kaufleute in einer schwierigen Lage. Seit dem Ende des Ersten Weltkriegs herrscht eine starke Inflation. Die an die Berufsversicherungsgesellschaften zu zahlenden Beiträge sind entsprechend hoch, zumal die Gesellschaften gewinnorientiert arbeiten. Im Schadensfall kann es Wochen, wenn nicht gar Monate dauern, bis die Versicherungssumme ausgezahlt wird – in Inflationszeiten gut für die Versicherungen, aber schlecht für die Versicherten.
In dieser Situation ruft der Tabakwarenhändler Fritz Appelhans zur Gründung einer genossenschaftlich organisierten Glasversicherung auf. Wenn einem Mitglied die Schaufensterscheibe zu Bruch geht, soll die Versicherung Abhilfe schaffen, und zwar deutlich schneller und kostengünstiger als die üblichen Berufsversicherungsgesellschaften. Zur Gründungsversammlung in der Wirtschaft Gudehus am 15. Juli 1921 erscheinen rund vierzig Geschäftstreibende. Fast alle Anwesenden treten noch am selben Abend bei. Appelhans wird zum Vorsitzenden gewählt, der Kaufmann Heinrich Albers zum Schriftführer und der Kaufmann Heinrich Köchling zum Kassierer. Nun gilt es, eine Satzung auszuarbeiten. Außerdem soll eine Sachverständigenkommission die zu versichernden Spiegelglasfenster bewerten. Am 31. Juli wird die Satzung durch die Generalversammlung angenommen. Einen Tag später nimmt die Erste Lingener Glasversicherung ihre Tätigkeit auf.
Die Gründungsmitglieder sind meist alteingesessene Geschäftsleute Lingens. Unter ihnen finden sich etwa das Drogeriegeschäft Goldbach und die Schreibwarenhandlung Pernutz am Marktplatz, das Manufakturgeschäft Markreich, das Schuhhaus Albers oder die Schlachtereien Körner und Hutmacher in der Großen Straße, außerdem die Schlosserei von der Brelie in der Lookenstraße und die Tischlerei und die Uhrmacherwerkstatt Hellmann in der Burgstraße. Die größten Versicherungssummen zahlen diejenigen mit den größten Schaufenstern: die Sattlerei Krauß, das Bekleidungsgeschäft Weller, das Kolonialwarengeschäft Hackmann und das Haushaltswarengeschäft Brackmann.
Bald reguliert die Versicherung die ersten Schadensfälle. Gegen einen Bauern aus Herzford, der bei der Tischlerei Bungenstock eine Scheibe zerstört hat, wird gar ein Prozess angestrengt. Doch die Inflation gefährdet den Fortbestand zusehens: 1922 wird noch einmal der zehnfache Jahresbeitrag eingezogen, 1923 bricht das auf festen Beitragssätzen beruhende Finanzierungsmodell dann endgültig zusammen. Im Schadensfall werden die entstehenden Kosten nun unmittelbar auf alle Mitglieder umgelegt. Erst nach Einführung der Rentenmark kehrt man zu dem alten Beitragssystem zurück, und die finanzielle Situation bessert sich zusehens. 1924 erreicht der Verein seine gerichtliche Eintragung und ist damit dem Reichsaufsichtsamt für Versicherungswesen unterstellt.
Zweck des Versicherungsvereins ist gemäß Satzung, „seine Mitglieder gegenseitig gegen Schaden zu versichern, der ihnen durch Zerbrechen von Spiegelglasscheiben jeder Art verursacht wird“. Voraussetzung ist ein Wohnsitz in der Stadt Lingen. Schäden durch „Feuer, Blitz und Explosion“ werden nur im Ausnahmefall übernommen und sollen besser durch eine eigene Feuerversicherung abgedeckt sein. Ausgeschlossen sind außerdem Schäden infolge von „Erdbeben, kriegerischen Ereignissen und bürgerlichen Unruhen“. Unwetter werden jedoch nicht eigens erwähnt, und das erweist sich als Fehler. Im Juni 1927 wird Lingen von einer schweren Wirbelsturmkatastrophe heimgesucht. Der Gesamtschaden wird auf fast eine halbe Million Reichsmark beziffert. Nicht zuletzt gehen zahllose Fensterscheiben zu Bruch. Es ist bezeichnend, dass im Protokollbuch des Vereins über die wohl im August/September abgehaltene Sitzung nur ein einziger Satz steht: „Über die 8. General-Versammlung im Jahre 1927 ist vom Schriftführer Heinr. Albers kein Protokoll niedergeschrieben.“ Jedenfalls übernimmt die Versicherung schließlich die durch den Sturm verursachten Schäden. Allerdings verliert sie dadurch fast sämtliche Mittel und muss sich danach einen neuen Kapitalstock aufbauen. Die Konsequenz ist eine Satzungsänderung. Von der Versicherung ausgeschlossen sind ab 1929 auch Schadensfälle „durch höhere Gewalt“.
Üblicherweise aber zerbrechen Schaufensterscheiben aus zwei ganz anderen Gründen. Der eine Grund ist der Verkehr. Bis zur Einrichtung von Fußgängerzonen wird der Hauptverkehr durch die engen Lingener Geschäftsstraßen geleitet. 1926 fährt Dr. Beckmann mit seinem Auto eine beherzte Kurve und zertrümmert so das Schaufenster des Musik- und Sporthauses Deeters (Lookenstraße 19). 1939 fährt ein vom Flugplatz Plantlünne kommendes Militärfahrzeug in das Schaufenster von Jan Schoenmaker (Lookenstr. 17). Und ein Laster aus Meppen zerbricht 1943 eine Schaufensterscheibe des Kaufhauses Weller (Lookenstr. 2). Der andere Grund sind Kinder. Immer wieder zerkratzen sie die Scheiben oder werfen sie ein. Auch Steinschleudern sind sehr beliebt. Zu ihrer Ergreifung werden Belohnungen ausgesetzt und Lehrer um Mithilfe gebeten.
Bald zeigt sich der Einfluss des Nationalsozialismus. Ab 1935 schließen die Generalversammlungen mit einem „Gruß an Führer und Vaterland“. Der Vorsitzende wird zum „Vereinsführer“, der Kassierer zum „Kassenführer“. Einstimmig wird 1935 beschlossen, für 2000 Mark Reichsanleihen zu zeichnen. Ein ähnlicher Beschluss fällt 1940. Lebhaft diskutiert wird der eventuelle Anschluss an eine Berufsversicherungsgesellschaft. Letztlich aber entscheidet man sich, auch weiterhin autonom zu bleiben. 1937 verhandelt man mit den Behörden um eine Scheibe des Schuhhauses Montag, die im Rahmen einer Luftschutzübung zu Bruch gegangen ist. So bekommt auch die Glasversicherung die Vorboten des aufziehenden Krieges zu spüren. Ab 1942 ruht die Vereinstätigkeit weitestgehend. Es ist schlicht nicht möglich, die durch Bomben und Beschuss zerstörten Scheiben zu ersetzen. Neue Spiegelglasscheiben sind ohnehin nicht zu bekommen. Durch die Währungsreform 1948 schmilzt das Vereinsvermögen dann endgültig dahin.
Auf Initiative des Einzelhandelsverbandes und seines Vorsitzenden Clemens Brackmann tritt man im Februar 1949 nach langer Zeit wieder zu einer Generalversammlung zusammen. Man ist sich einig, die Glasversicherung wiederzubeleben. Die Wirtschaftswunderjahre schlagen sich bald auch in den Mitgliedszahlen nieder. Sie steigen von rund 130 (1949) auf 200 (1960). Auch finanziell gelingt es, wieder Tritt zu fassen. Die Jahre 1957 bis 1960 bleiben deshalb beitragsfrei, ebenso die Jahre 1983 bis 1985. 1968 übernimmt die Kreishandwerkerschaft die Geschäftsführung. Vor einigen Jahren wurde die Erste Lingener Glasversicherung aufgelöst. In diesen Tagen jährt sich ihre Gründung zum hundertsten Mal.