Einst spukte ein Geist auf dem Lingener Universitätsplatz: der Klatterjan. 1892 berichtete J. Jacobs im Lingenschen Wochenblatt über ihn. Lange habe Jacobs vergeblich nach Lingener Sagen gesucht, bis er in der Hauschronik eines Freundes schließlich drei Sagen entdeckt habe: Die eine ist die Machurius-Sage. Eine andere Sage handelt von drei Jungfrauen, die am Heiligen Abend den Alten Friedhof verließen, in der reformierten Kirche einen feierlichen Lobgesang anstimmten und danach wieder auf dem Friedhof verschwanden. Die dritte Sage schließlich betrifft Klatterjan. Und die geht so:
In der Stadt Lingen befindet sich ein schöner, großer Platz, gemeinhin „Schulplatz“ genannt, weil dort das alte Gymnasialgebäude liegt. Dieser Platz ist mit alten, über hundertjährigen Linden besetzt. Auf ihm haust ein Geist, genannt Klatterjan, dessen Stimme viele noch Lebende – bald erzürnend, bald warnend, bald lieblich säuselnd – in den Gipfeln der alten Linden in späten Abendstunden vernommen haben. Oft erhielten hier Männer und Frauen, Jünglinge und Mädchen von diesem Geist derbe Backenstreiche, wenn sie diesen dunklen beschatteten Platz in böslicher Absicht am Abend besuchten. Oft schon drang ein wehmütiges „Ach!“ aus hohlen Linden hervor, wenn ein liebendes Paar hier weilte und an die Gefahren des Alleinseins kaum mehr dachte, durch das wehmütige „Ach“ aber aufgeschreckt zur Besinnung zurückkehrte. Oft auch wurde im sanften Säuseln der Linden ein geisterartiges „Hoffet!“ gehört von treuen Liebenden, welche durch ihre Herzen verbunden, aber durch Eltern und Verhältnisse getrennt waren.
An der Stelle, wo jetzt das alte Gymnasialgebäude steht, prangte in früheren Jahrhunderten ein stolzes Klostergebäude. Zur Aufnahme in dasselbe meldete sich einst ein Jüngling, der mit der Welt zerfallen zu sein schien. Der Prior, ein biederer Greis, stellte ihm während des Prüfungsjahres wiederholt die Wichtigkeit des Schrittes vor und ermahnte ihn zurückzutreten, wenn nur irdische Rücksichten ihn zu diesem Schritt verleitet hätten. Allein nichts konnte ihn in seinem Vorhaben wankend machen, und demzufolge wurde er nach überstandenem Probejahr aufgenommen unter der Zahl der Klosterbrüder. Bald leuchtete er diesen in Allem als ein Vorbild von Frömmigkeit und eifriger Erfüllung der Klosterpflichten voran, und stille Ruhe war an heiliger Stätte in sein Herz zurückgekehrt. Nicht lange sollte das währen.
Einst wurde er zu einer Sterbenden gerufen, um derselben die Tröstungen der Religion zu bringen. Er ging und fand in niedriger Hütte auf einem Strohlager eine Frau liegen, deren Leben nur noch nach Augenblicken zu zählen schien. Sowie er sich näherte, raffte sie ihre letzten Lebenskräfte zusammen, stierte ihn mit hohlen, halberloschenen Augen an und sprach: „Ja, Du bist’s! Mein einziger, mein letzter Wunsch ist erfüllt. Noch einmal wollte ich Dich sehen, Dir fluchen und sterben. Dir, der Du meinen Bitten, meinem Flehen unzugänglich bliebest und mir den Frieden in diesem Leben nahmst und, obgleich Du es vermochtest, ihn mir nicht widergabest. Dir werde im Grabe nimmer, nimmer Ruhe, bevor Du nicht tausendfach als wandelnder Geist auf Deinem Friedhofe ein solches Unheil verhütet, wie Du es an mir begangen.“ Kaum hatte sie diese Worte gesprochen, so sank sie erschöpft zurück und starb.
Furchtbar erschüttert durch den Vorfall, kehrte der junge Mönch in sein Kloster zurück. Seine Kraft war gebrochen. Still und in sich gekehrt wankte er noch eine kurze Zeit umher, dann fand man ihn eines Morgens entseelt auf seiner Ruhestätte. Er wurde begraben, doch Ruhe fand er nicht im Grabe, denn bald darauf entstand die Sage von dem wandelnden Geist eines Mönchs, der jeden strafe und warne, den böser Wille oder jugendlicher Leichtsinn zur sinnlichen Lust treibe in der Nähe seiner Gruft.
Soweit die Sage. Der Schulplatz heißt heute Universitätsplatz. Das alte Gymnasialgebäude wurde bereits 1680 als Lateinschule errichtet und 1820 mit den Mitteln der Hohen Schule zu einem Gymnasium aufgewertet. 1859 zog das Gymnasium – inzwischen unter dem Namen Georgianum – in die Henriette-Flatow-Straße. Heute beherbergt das alte Gymnasialgebäude die Kunstschule. Ein früheres Kloster lässt sich hier allerdings nicht belegen. Tatsächlich standen hier im 17. Jahrhundert Soldatenbaracken und eine von italienischen Soldaten genutzte Italienische Kirche. Die alten Linden stehen heute nicht mehr. Sie fielen dem Wirbelsturm von 1927 zum Opfer. Bleibt nur noch zu klären, was der Name Klatter-Jan überhaupt bedeutet. Er geht auf das niederdeutsche „Klâter“ zurück, was „Fetzen“ oder „Lumpen“ meint. Wer in abgerissenen Kleidern erschien, von dem sagte man: „He läppt herum as 'n Klatterjan.“
Quellen und Literatur