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Archivalie – März 2023

In wilder Ehe

Ordentlich verheiratet. Wer von dieser Norm abwich, hatte es schwer.

Auf dem Hinterhof des Amtsgerichts (Haus Danckelmann) stand im 19. Jahrhundert ein Gefangenenhaus. Anhand von Gefangenenlisten lassen sich dort zwischen 1853 und 1860 fast dreihundert Insassen nachweisen. Die meisten sind Männer. Doch es gibt auch Ausnahmen. Pauline Schmidt etwa saß hier ein, weil sie einen Gendarmen beleidigt hatte, Lisette und Elisabeth Wenzeli hatten Bettelei betrieben. Andere Frauen waren wegen Trunkenheit, Diebstahl oder Vagabundage verurteilt worden. Einige waren aber auch hier, weil sie in wilder Ehe gelebt hatten. Unter ihnen war auch Elise Erdbrink.

Bereits im Mittelalter wird vorehelicher und außerehelicher Geschlechtsverkehr zum Teil schwer geahndet, und das ändert sich auch in der Frühneuzeit nicht. Das Lingener Landrecht von 1555 schreibt vor, dass jeder, der eine Magd von Herrschaften und Gutsherren entehrt und beschlafen habe, an den Herrn eine „Bettmünze“ zahlen müsse und an die Magd für ihre Unehre und den Verlust ihrer Jungfräulichkeit 14 Gulden. Wer eines Bürgers oder Gutsherren Tochter entehrt habe, muss sie entweder zur Ehe nehmen oder ihr – je nach den Vermögensverhältnissen ihres Vaters – die Mitgift erstatten. Und die Neufassung von 1639 ergänzt: Wer die Ehe bricht, muss eine Buße zahlen, und zwar 50 Gulden beim ersten Mal, 100 Gulden beim zweiten Mal; beim dritten Mal soll er am Leibe gestraft werden. Die Lingener Kirchenordnung von 1678 schließlich nennt Ehebruch in einem Atemzug mit Blutschande und Hurerei („bloetschande, echtbreecke, hoererye“).

Im Jahre 1750 wird der Lingener Magistrat von der Regierung aufgefordert, „Gebrechen gegen das 6te Geboth“ zur Meldung zu bringen. So wird aktenkundig, dass die unverheiratete Anna Maria Borcholtz aus Schapen einen Sohn zur Welt gebracht hat und Helena Molfenger eine uneheliche Tochter. Rund ein Jahr lang haben dann, wie der Magistrat berichtet, „die hiesige[n] Bürger-Mädgens sich ehrbar und züchtig getragen“. Doch dann bekommt auch die Witwe Maria Wübben eine Tochter.

Mit einem ähnlichen Fall ist der Magistrat 1803 befasst: Catharina Meyer bekommt von einem gewissen Wilhelm Honemann aus Cloppenburg ein Kind, doch der ist trotz versprochener Ehe plötzlich unauffindbar. Schließlich kommt heraus, dass er sich zum Militär gemeldet hat. Das Kind aber stirbt bald darauf, und so scheint es dem Magistrat, dass sie unverheiratet wohl „ruhiger als in der Ehe mit ihrem Schwängerer“ leben würde.

Dass eine uneheliche Geburt zu zahlreichen Komplikationen führen konnte, zeigt der Fall der Elise Voss. Sie bringt 1850 einen Sohn zur Welt, überlässt ihn aber gegen entsprechende Bezahlung dem alten Schusterehepaar Hilmer zur Pflege. Dann zieht sie nach Nienburg, heiratet einen Soldaten namens Topp, und der weigert sich, weiterhin Unterhalt zu zahlen. Der Vater des Kindes indes, der Buchhändler Rackhorst aus Osnabrück, ist offenbar unauffindbar. Als der Junge fünf ist, stirbt der Ziehvater, mit neun Jahren auch die Ziehmutter, und so kommt er notdürftig bei dessen Schwiegertochter unter. Der weitere Verlauf der Geschichte ist unbekannt.

Und dann ist da eben noch der Fall der unverheirateten Näherin Elise Erdbrink. 1853 bringt sie mit 31 Jahren einen Sohn zur Welt (der später übrigens Kirchendiener wird). Der Vater ist der Handarbeiter Johann Heinrich Plesse. Zwei weitere uneheliche Söhne kommen 1857 und 1862. Und das hat Folgen. Wegen „Unzucht“ sitzen beide Elternteile 1857 einen Tag lang im Gefängnis des Amtsgerichts ein. Und 1859 muss Elise Erdbrink hier erneut zwei Wochen hinter Gittern verbringen  – wegen „Leben in wilder Ehe bezw. Gebären eines unehelichen Kindes“.

Auch im 20. Jahrhundert werden Liebesbeziehungen ohne Trauschein noch lange kriminalisiert. 1907 meldet der Lingener Polizeisergeant Kuhl: „Der Arbeiter Kurt Vieregge lebt  mit der Witwe Lohrengel außerehelich zusammen. Dieses außereheliche Zusammenleben ist ein unmoralisches, tritt dem Publikum offenkundig vor Augen und gibt Veranlassung zu öffentlichem Ärgernis. Dieselben führen einen gemeinschaftlichen Haushalt und benutzen zusammen einen Schlafraum. Die Wittwe Lohrengel ist als eine liederliche Person bekannt und hat schon mehrfach außerehelich geboren.“ Der Magistrat verfügt, dass zunächst der Pfarrer beiden ins Gewissen reden sollte, danach aber notfalls zu „polizeilichen Zwangsmitteln“ zu greifen wäre.

Erst im Gefolge der 68er-Bewegung kommt es zu einer Liberalisierung der Sexualmoral und eheähnliche Gemeinschaften werden zunehmend auch rechtlich zur Kenntnis genommen und anerkannt.

Quellen und Literatur

 

  • StadtA LIN, Altes Archiv, Nr. 2563, 2874, 4267, 4447, 5083 und 5574.
  • StadtA LIN, Ev.-Ref. KA (Dep.), Nr. 301.
  • StadtA LIN, Fotoserien, Nr. 570.
  • StadtA LIN, Karten und Pläne, Nr. 181.
  • StadtA LIN, PSR, LIN St, 1946/216.
  • Cramer, Wilhelm: Geschichte der Grafschaft Lingen im 16. Und 17. Jahrhundert besonders in wirtschaftskundlicher Hinsicht (Schriften des Niedersächsischen Heimatbundes NF 5), Oldenburg 1940. 

  • Fockema Andrae, S.J.: Het Landrecht van Lingen van 1555, in: Verslagen en Mededeelingen der Vereeniging tot uitgaat der bronnen van het oud-vaderlandsche recht, Deel XII, No. 1, Utrecht 1960, S. 17-58.

  • Lingener Landrecht. Statuta Lingentina 1555. Aus alt-niederländischer Sprache übersetzt von Joseph Wöste, Lingen 1974 Wöste, J.: Vom alten Lingener Landrecht, in: Kivelingszeitung 1955, S. 12f.

     



Artikeldatum: 4. März 2023
Fotos v.o.n.u.: © Stadtarchiv Lingen, © Stadtarchiv Lingen, © Stadtarchiv Lingen