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Archivalie – Mai 2023

Streik!

Arbeiter des Eisenbahnausbesserungswerkes: Gruppenbild im Wagenwerk

Im Zuge der Industrialisierung nutzten die Arbeiter zunehmend Streiks als Mittel, ihren Forderungen Nachdruck zu verleihen. Bald entstanden die ersten Gewerkschaften. Bekämpft wurden sie von den Unternehmern, aber auch vom Staat, der immer wieder versuchte, Streiks für illegal zu erklären.

1872 kam es auch in Lingen erstmals zu einem Streikversuch. Anlass könnte eine Streikwelle in Hannover gewesen sein, gegen die das Lingensche Wochenblatt mit beißendem Spott polemisierte. Jedenfalls kursierten nun auch in Lingen zahlreiche sozialdemokratische Zeitschriften, und die Arbeiter des Eisenbahnausbesserungswerkes versuchten, den Streik zu organisieren und auf die Eisengießerei auszudehnen. Erfolgreich war dieser Streikversuch jedoch nicht. Wer streikte, wurde schlicht entlassen. Und so konnte der Magistrat noch 1895 vermelden, dass „gewerbliche Arbeitseinstellungen seitens der Arbeiter hier bislang überall nicht vorgekommen sind“.

Bismarcks Sozialistengesetze verboten 1878 sämtliche sozialdemokratischen und sozialistischen Vereine. Erst nach Rücknahme der Sozialistengesetze 1890 gründeten Arbeiter des Ausbesserungswerkes 1894 einen Ortsverein der deutschen Eisenbahn-Handwerker und -Arbeiter und schufen damit die erste Gewerkschaft des Emslandes. Zwei Jahre später schlossen sich die Maschinenbauer und Metallarbeiter zu einer Gewerkschaft zusammen. 1904 entstand außerdem eine sozialdemokratisch ausgerichtete Maurergewerkschaft. Unter diesen Voraussetzungen kam es 1909 zu einem Streik. Im Ausbesserungswerk und zwei weiteren Betrieben hatten die Unternehmer den Handwerkern mit hoher Arbeitsleistung 46 Pfennig Stundenlohn zugesagt, denen mit niedriger Arbeitsleistung aber nur 34 bis 42 Pfennig. Benachteiligt wurden dadurch vor allem die unerfahrenen und die alten Arbeiter. Gedeckt von ihren Gewerkschaften forderten die Maurer, Zimmerleute und Handlanger daraufhin gleiche Bezahlung für alle und traten in den Streik. Doch auch dieser – immerhin fast sechs Monate währende – Streik verlief erfolglos. Gegen Streikposten und Verteiler von Flugblättern wurden Strafverfahren eingeleitet, auswärtige Arbeiter als Streikbrecher eingesetzt. Letztlich wurde die Produktion nur unwesentlich gestört.

Im Frühjahr 1919 rollte eine Streikwelle durch das ganze Land. Am 2. April um 13:45 Uhr legten auch die Arbeiter des Ausbesserungswerkes die Arbeit nieder, um einen Demonstrationszug zu veranstalten. Die zur Spätschicht ankommenden Arbeiter schlossen sich dem Zug an, sodass am Ende rund 2000 Personen auf der Straße waren. Man bewegte sich zunächst durch die Kaiserstraße bis zum Landratsamt. Eine aus den Demonstranten gebildete Kommission von rund zwölf Personen verhandelte eine Stunde lang mit dem Landrat. Thema war die schlechte Versorgung mit Lebensmitteln. Danach ging es durch die Burgstraße zum Marktplatz. Unterwegs wurde noch der „Kaufmann B.“, der allgemein des Schleichhandels verdächtigt wurde, zur „Rechenschaft“ gezogen. Vor dem Stadthaus angekommen, forderte man den Magistrat auf, ebenfalls Stellung zur Lebensmittelfrage zu beziehen. Keines der Magistratsmitglieder erschien, doch schließlich stellte sich Polizeikommissar Gilles den Fragen der Arbeiterschaft. Und die zeigte sich nach den Gesprächen mit Landrat und Polizeikommissar durchaus zufrieden.

In Reaktion auf den Kapp-Lüttwitz-Putsch wurde überall im Land zum Generalstreik aufgerufen. Es war der größte der deutschen Geschichte. Auf Betreiben der Eisenbahnerschaft traten am 15. März 1920, 6 Uhr, auch die Lingener Arbeiter in den Streik. In der Großkundgebung am nächsten Tag wurde jedoch dazu aufgerufen, Demonstrationen und Ansammlungen zu vermeiden, um die Lingener Bürgerschaft nicht zu beunruhigen. Das Wochenblatt berichtete von kursierenden Gerüchten „wie in den Novembertagen 1918“. Nach vier Tagen wurde die Arbeit wieder aufgenommen.

Für die Arbeiter des Ausbesserungswerkes, des mit Abstand größten Arbeitgebers in Lingen, brachen nun unsichere Zeiten an. Ihre Zahl sank von 2300 im Jahr 1919 auf unter 800 im Jahr 1932. Es kam zu Massenentlassungen, und mehrfach stand das Werk vor der Schließung. Die Unsicherheit unter den Arbeitern schlug sich auch politisch nieder. Waren im Werk zunächst die zentrumsnahe Gewerkschaft der Eisenbahner (GdE) und der unabhängige Allgemeine Eisenbahnerverband (AEV) federführend, erreichte der sozialistisch ausgerichtete Deutsche Eisenbahnerverband (DEV, später EVED) bei den Betriebswahlen im Juli 1920 die absolute Mehrheit und behielt sie auch in den folgenden Jahren. Damit gab es in der Zentrum-Hochburg Lingen einen sozialistischen Gegenpol. Angesichts zunehmender Geldentwertung und ständig drohenden Arbeitsplatzverlusts wurde die Stimmung im Werk immer explosiver. Im Februar 1922 traten die Eisenbahner erneut in den Streik, doch wurde er nach nur einer Woche ohne Erfolg abgebrochen.

Die Preise stiegen indes weiter. Anfang 1923 setzte eine Hyperinflation ein. Im August konnte das Ausbesserungswerk seinen Arbeitern mangels Kleingeld den Lohn nicht mehr zahlen. Auch die Lingener Banken konnten nicht aushelfen. Um Unruhen zu vermeiden, wurde deshalb eine Lokomotive zum Geldholen nach Münster geschickt. Die Stimmung unter den Arbeitern heizte sich derweil immer stärker auf. Schließlich legten sie die Maschinen still, traten in den Streik und betrieben, wie der Magistrat es ausdrückte, „kommunistische Propaganda“.  Bald kam die Lokomotive aus Münster zurück, allerdings nur mit 50-Millionen-Mark-Scheinen, die nirgendwo in der Stadt umgetauscht werden konnten. Die Löhne konnten erst ausgezahlt werden, als die Reichsbahndirektion Notgeldscheine in Höhe von 1 Million Mark herausgab.

Erst mit der Einführung der Rentenmark im November 1923 konnte die Inflation wieder eingedämmt werden. Im Ausbesserungswerk jedoch blieb die Stimmung angesichts einer ungewissen Zukunft gereizt. Regelmäßig kursierten Gerüchte. Im Herbst 1924 kam es erneut zu einer Protestveranstaltung der Eisenbahner, und eine ganze Kompagnie Reichswehrsoldaten wurde kurzfristig nach Lingen verlegt und mit Maschinengewehren vor den Werkseingängen in Stellung gebracht. Den weiteren Stellenabbau konnte allerdings auch dieser Protest nicht verhindern.

 

 

Quellen und Literatur

 

  • StadtA LIN, Altes Archiv, Nr. 111, Nr. 983, Nr. 998, Nr. 3935.
  • StadtA LIN, Lingener Volksbote vom 11.12.1909 und vom 5.4.1919.
  • StadtA LIN, Lingensches Wochenblatt vom 23.6.-7.7.1872, vom 20.6.1909 und vom 5.4.1919.
  • Crabus, Mirko: Das Lingener Notgeld, in: Jahrbuch des Emsländischen Heimatbundes 62 (2016), S. 171-185.
  • Lensing, Helmut: Betriebsratswahlen im Lingener Reichsbahnausbesserungswerk während der Weimarer Republik, in: Jahrbuch des Emsländischen Heimatbundes 41 (1995), S. 82-103.
  • Lensing, Helmut: Der Kapp-Lüttwitz-Putsch im Emsland und in der Grafschaft Bentheim und seine Auswirkungen, in: Emsländische Geschichte 5 (1996), S. 45-105.
  • Lensing, Helmut: Die Wahlen zum Reichstag und zum Preußischen Abgeordnetenhaus im Emsland und der Grafschaft Bentheim 1867 bis 1918. Parteiensystem und politische Auseinandersetzung im Wahlkreis Ludwig Windthorst während des Kaiserreichs (Emsland/Bentheim 15), Sögel 1999.
  • Lensing, Helmut: Art. „Gilles, Hermann“, in: Emsländische Geschichte 8 (2000), S. 196-199.
  • Post, Helmut: Industrieansiedlungen und soziale Lage der Arbeiter in Lingen zwischen 1850 und dem 1. Weltkrieg (Mskr.), Lingen 1979.
  • Steinwascher, Gerd: Politische Geschichte im 19. und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, in: Franke, Werner e.a. (Hg.): Der Landkreis Emsland. Geographie, Geschichte, Gegenwart. Eine Kreisbeschreibung, Meppen 2002, S. 333-380.

 

 



Artikeldatum: 2. Mai 2023
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