Im Jahre 1869 gründeten die Lingener Jüdinnen und Juden eine eigene Synagogengemeinde. Sie hatten sich bis dahin nach Freren orientiert. Unterrichtet wurden die jüdischen Kinder zunächst in angemieteten Räumen, doch das konnte nur eine Übergangslösung sein. 1878 gelang der noch jungen Gemeinde unter großen finanziellen Mühen nicht nur der Bau einer Synagoge (Gertrudenweg 1, seit 1988/89 Synagogenstraße 1), sondern auch eines dahinterliegenden Schulhauses. Es war ein kleines, einräumiges Gebäude aus roten Ziegelsteinen. Im Zuge der Novemberprogrome 1938 wurde die Lingener Synagoge angezündet und brannte nieder. Die Feuerwehr verhinderte lediglich ein Übergreifen der Flammen auf die Nachbargebäude. So blieb auch die Jüdische Schule von den Flammen verschont. Nach mehreren Wochen im Konzentrationslager Buchenwald verkauften der Gemeindevorsteher Jakob Wolff und sein Stellvertreter Wilhelm Heilbronn das Grundstück im April 1939 für 1168 Reichsmark an zwei Nachbarn. Es bedeutete das faktische Ende der Lingener Synagogengemeinde. Das Schulgebäude wurde fortan als Pferdestall und Schuppen genutzt.
Die Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit begann in Lingen 1975 mit einem Leserbrief. Helga Hanauer, die letzte damals noch in Lingen wohnende Jüdin, kritisierte, dass eine an alle Haushalte verteilte Festschrift zur Lingener 1000-Jahr-Feier zwar einen stadtgeschichtlichen Abriss enthielt, jedoch mit keinem Wort auf das Schicksal der jüdischen Gemeinde einging. Auch in dem im selben Jahr erschienenen Aufsatzband zur Lingener Geschichte blieb das Thema unterreflektiert. Die nun einsetzende Diskussion führte dazu, dass 1977 auf einem städtischen Grundstück nahe der einstigen Synagoge – Ecke Synagogenstraße/Konrad-Adenauer-Ring – ein Gedenkstein, der sogenannte „Synagogenstein“, aufgestellt wurde. 1986 gesellte sich der „Familienstein“ hinzu. Er nennt die Namen der verfolgten und ermordeten jüdischen Familien und Einzelpersonen aus Lingen. Das Grundstück firmierte fortan unter dem Namen „Synagogenplatz“.
1985 nahm die Stadt Verhandlungen mit dem Eigentümer der Jüdischen Schule auf. Der Eigentümer aber wollte nur einen Teil des Grundstücks hergeben, und das auch nur im Tausch mit eben jenem städtischen Grundstück, auf dem der Synagogenstein und der Familienstein standen. Die Stadt hingegen beharrte auf den Erwerb des ganzen Grundstücks. Man kam zu keinem Ergebnis. Als zum 50. Jahrestag der Synagogenzerstörung die Frage aufkam, ob man das im Verfall begriffene ehemalige Schulhaus nicht würdevoller gestalten könne, antwortete die Verwaltung, dass die Erwerbsverhandlungen bereits vor Jahren gescheitert seien. 1988 stellte die Stadt das Gebäude unter Denkmalschutz. Doch auch die weiteren Verhandlungen gestalteten sich schwierig, wie unter anderem auch eine Sendung des NDR3 am 7. Juli 1992 dokumentierte.
Als bei der Stadtverwaltung eine Bauanfrage einging, auf dem Grundstück der Schule ein Wohn- und Geschäftshaus zu errichten, verhängte der Stadtrat im Februar 1994 über das Gebäude eine Veränderungssperre. Ihr schlechter baulicher Zustand bereitete zunehmend Sorgen. Die Lingener Pax-Christi-Gruppe und der 1983 gegründete Arbeitskreis Judentum-Christentum (seit 2001 Forum Juden–Christen) forderten die Renovierung des Gebäudes und die Einrichtung eines Jüdischen Museums. Tatsächlich hatten beide Gruppen schon 1991 im Professorenhaus und 1996 im Emslandmuseum Ausstellungen über das Schicksal jüdischer Familien im Lingener Raum konzipiert. Im Februar und März 1997 diskutierte der Verwaltungsausschuss intensiv über die Zukunft des Schulgebäudes. Am 15. September 1997 beschloss der Stadtrat schließlich, das Grundstück mit erheblichem finanziellen Aufwand zu erwerben. Im Gegenzug erhielt der Eigentümer den Synagogenplatz. Synagogenstein und Familienstein wurden später entsprechend auf das Schulgrundstück umgesetzt.
Während nun umfangreiche Sanierungsmaßnahmen in die Wege geleitet wurden, erarbeitete man zugleich das künftige Nutzungskonzept für die ehemalige Jüdische Schule. Es sollte ein Dokumentationszentrum entstehen, das für Vorträge, Sitzungen des Arbeitskreises und im Rahmen von Stadtführungen genutzt werden sollte. Die dafür geplante Dauerausstellung wurde in Zusammenarbeit mit Stadtarchiv und Emslandmuseum vom Arbeitskreis Judentum-Christentum, namentlich von ihrem Mitglied Gertrud Anne Scherger, entwickelt. Mit finanzieller Unterstützung der Stadt sollte außerdem eine Broschüre geschrieben werden, die die beiden Ausstellungen von 1991 und 1996 zusammenfasste. Nun entstand auch die Idee, die nahegelegene Straße nach dem Synagogenvorsteher Jakob Wolff zu benennen, was 1999 realisiert wurde.
Bis zum November 1998 konnten alle Projekte zum Abschluss gebracht werden, und damit stand der Eröffnung des Gedenkortes „Jüdische Schule“ nichts mehr im Wege. Am 6. November stellte Frau Scherger im Emslandmuseum ihre Broschüre „Verfolgt und ermordet“ vor. Am Sonntag, dem 8. November 1998 – also am Vorabend des 60. Jahrestages der Novemberpogrome – wurde in Anwesenheit von Ehrenbürger Bernhard Grünberg, Rabbiner Marc Stern und Oberbürgermeisterin Ursula Ramelow auf dem Jüdischen Friedhof ein Gedenkstein für Grünbergs Eltern Bendix und Marianne und seine Schwester Gerda Grünberg aufgestellt. Alle drei waren im Holocaust ermordet worden. Das Denkmal sei, so Bernhard Grünberg, „die einzige Möglichkeit für mich, meine Eltern und Schwester zu ehren“.
Später am Tag empfing Oberbürgermeisterin Ramelow im Neuen Rathaus den Vorsitzenden des Zentralrats der Juden in Deutschland Ignatz Bubis. Dieser mahnte in seiner Rede, die Erinnerung wach zu halten. Das Zusammenleben der Menschen in Deutschland könne gut funktionieren, wenn man lerne, anderen Kulturen nicht mit Fremdenfeindlichkeit zu begegnen, sondern sie zu akzeptieren. Es sei allerdings besorgniserregend, so Bubis, dass gerade junge Männer verstärkt rechts wählen.
Am Abend schließlich versammelten sich zahlreiche Menschen an der ehemaligen jüdischen Schule. Der stellvertretende Landrat Rolfes erinnerte daran, dass jeder einzelne einen Beitrag dazu leisten könne, dass sich Geschehnisse wie damals nicht mehr wiederholen. Oberbürgermeisterin Ramelow und Stadtarchivar Remling ließen in ihren Reden die Geschichte der Jüdischen Schule Revue passieren, und Museumsleiter Eiynck führte durch die neue Ausstellung. Auch die Lingener Holocaustüberlebende Ruth Foster war anwesend. Sie berichtete davon, wie sie damals in den 1920er Jahren hier mit rund zehn anderen Kindern den Unterricht von Lehrer Speier erlebt habe. Sie hätte nie gedacht, so erzählte sie, dass aus dem Gebäude mal ein so würdiger Ort der Erinnerung werden würde.
Die Einweihung des Gedenkortes „Jüdische Schule“ jährt sich in diesen Tagen zum 25sten Mal. Neben dem Jüdischen Friedhof ist die Jüdische Schule das einzige im Original erhaltene Baudenkmal, das an die Lingener Synagogengemeinde erinnert. Ein Eingangstor erhielt die Jüdische Schule erst später. Es wurde von Bernhard Grünberg entworfen und geschmiedet und im September 2000 seiner Bestimmung übergeben.
Quellen und Literatur
Vehring, Karl-Heinz: Lingen, Zentrum einer Region, Strukturwandel und Modernisierung, Düsseldorf und Lingen 2013