Als 1680 die Lateinschule eingerichtet wurde, verpflichtete sich die Stadt, die vierte Lehrerstelle selbst zu finanzieren. Entsprechend war es auch ein Lingener, der die Stelle bekam: Johann Propsting, der nicht nur Praeceptor (Lehrer) war, sondern sich außerdem als Organist etwas dazuverdiente. Seine Dienstwohnung hatte er dort, wo heute das Haus Am Wall-Nord 58 steht. In dem halb vorgelagerten Haus Baccumer Straße 17 war die Druckerei und die Wohnung des Pedells (Hausmeisters) der Hohen Schule untergebracht. Zum Haushalt des Lehrers Propsting gehörten neun Personen, inklusive Magd und zahlreicher Kinder. Doch die Funktion des Lehrerhauses wechselte bald. 1733 ist es erstmals als Hebammenhaus belegbar.
Spätestens seit dem 17. Jahrhundert unterhielt die Stadt eine städtische Hebamme. Die erste bekannte Lingener Hebamme war Anne Jenne Brüssel. 1677 erscheint sie als „Vrow Moeder“ oder Wyse Moeder“. Nach dem Tod der Stadthebamme Aelheyt Wolters trat Bernhardine (Berentje) Schabus (Schabbes) aus Ootmarsum, Ehefrau von Hans Backofen, 1690 ihre Nachfolge als „Vroudfrouw“ (so der niederländische Begriff) an. 1731 stellten Bürgermeister und Rat ihr ein durchaus wohlwollendes Arbeitszeugnis aus. Sie dürfte die erste Bewohnerin des Hebammenhauses gewesen sein. 1734 schlug sie – inzwischen immerhin 80 Jahre alt – der Stadt ihre Schwiegertochter Gertrud ter Mölen, Ehefrau des Johann Werning, als Nachfolgerin vor und bat, ihr die Profession entsprechend lehren zu dürfen. Tatsächlich wurde Gertrud ter Mölen die neue Stadthebamme. 1772 meldete ihr Mann dem Magistrat, dass „daß von ihr bewohnt werdende, der hiesigen Stadt gehörige Haus eines hiesigen untersten Lateinischen Praeceptoris im baufälligen Stande wäre“. Der Magistrat überzeugte sich vor Ort selbst vom Zustand des „Stadts Hebammenhaus[es]“ und bewilligte die Reparatur.
Die Nachfolge von Gertrud ter Mölen trat 1776 Anna Elisabeth Schützin geb. Agoltin an. Als erste Lingener Hebamme hatte sie zuvor eine reguläre Hebammenausbildung abgeschlossen, wie sie seit 1765 verpflichtend war. Genauso wie Professor Funke von der Hohen Schule, der später als Landphysikus selbst die angehenden Hebammen im Lingener Raum prüfen wird, hatte sie ihre Ausbildung im Findelhaus Kassel erhalten. 1786 wurde mit Maria Elisabeth Hackstock erstmals eine zweite Hebamme eingestellt. Sie wurde von der Stadthebamme Schützin selbst unterwiesen, aber auch vom Landphysikus Dr. Donkermann unterrichtet und geprüft. Als zweite Hebamme hatte sie kein Wohnrecht im Hebammenhaus. Doch das befand sich inzwischen ohnehin in einem recht erbärmlichen Zustand. Falls es nicht repariert werden könne, so forderte die Lingener Regierung, sollte es zumindest „vor der Hand gestützet“ werden, „daß es nicht einstürzen kann“. 1788 wurde es abgerissen und neu aufgebaut.
Mit dem Tod der Hebamme Schützin 1802 dürfte Maria Elisabeth Hackstock das Hebammenhaus bezogen haben, und als zweite Hebamme wurde ein Jahr später die etwa 29jährige Henriette Friederike Fokke geb. Griesendahl eingestellt. Ihren Unterricht hatte sie zunächst vom Landphysikus Donkermann, danach von dessen Nachfolger Prof. Dr. Finke erhalten. Zehn Jahre später wiederholte sich das Ganze: Die Hebamme Hackstock verstarb, die Hebamme Focke zog von ihrer Privatwohnung (Castellstr. 11) in das Hebammenhaus, und Professor Finke nahm die neue Hebamme Friederike Catharina Boden geb. Müller in die Lehre.
Mit dem Jahr 1822 kam das Ende des Hebammenhauses. Zuletzt wohnten hier nicht nur die Hebamme Fokke mit ihrer großer Familie, ihr Mann betrieb hier außerdem eine Tischlerei. Es wurde zu eng, und so kauften sie sich ein größeres Haus. Da der Hebamme Fokke das Hebammenhaus allerdings auf Lebenszeit zugesichert war, bekam sie aus der Stadtkämmerei eine jährliche Abschlagssumme. Die Stadt hingegen hatte schon 1814 beschlossen, dass das Haus nach ihrem Tode nicht wiederbesetzt werden sollte. Denn schließlich sei „diese Stelle ohnehin hierselbst sehr einträglich“ – immerhin 30 Gulden festes Gehalt – und davon könne man „auch ohne Dienstwohnung selbst mit einer Familie reichlich leben“. Die Hebamme Boden, die sich bisher Hoffnungen auf das Haus machen konnte, ging damit leer aus. Und das löste den Protest des Kreisphysikus Finke als „Vorstand des hiesigen Hebammenwesens“ aus. Das Hebammenhaus sei „die sicherste Bürgschaft für eine gute Hebamme“ und würde „der 2ten Hebamme jedesmal bey ihrem dürftigen Einkommen Muth zur Beharlichkeit“ einflößen. Das Haus wurde dennoch meistbietend versteigert. Ausgenommen war lediglich ein kleines Gartenstück, das zugunsten des benachbarten Pedellhauses an die Schulkommission verkauft wurde.
Die Professionalisierung der Hebammenausbildung setzte sich im 19. Jahrhundert fort. 1824 wurde in Osnabrück – und damit erstmals in größerer Nähe – eine Hebammenschule gegründet. Die Hinzuziehung von unbeeidigten Hebammen war, wie dem Magistrat 1844 mitgeteilt wurde, nunmehr verboten. Frauen, die dennoch Geburtshilfe anboten, sollten als Quacksalberinnen bestraft werden. Die Ausbildung war allerdings mit hohen Kosten verbunden, und die Hebammen kamen meist aus den ärmeren Bevölkerungsgruppen. Deshalb wurde auch in der Niedergrafschaft Lingen 1817 eine Hebammenkasse ins Leben gerufen, finanziert von heiratswilligen Paaren, die die Ausbildung finanziell unterstützen sollte. 1839 stellte die Stadt erstmals eine dritte Hebamme ein. Grund war, dass die Hebamme Fokke inzwischen recht alt war und die Hebamme Boden angesichts mangelnder Kenntnisse kein großes Vertrauen genoss. Die Stelle bekam Clara Margaretha Charlotte Luise Brune geb. Westing, die ihre Ausbildung auf der Hebammenschule Osnabrück erhalten hatte.
1850 starb Henriette Fokke mit 76 Jahren. Ihr Sohn erinnerte sich, wie sie angesichts der Not vieler junger Mütter immer wieder Wäsche und Kleidung für sie zusammengebettelt hatte. Zwei Jahre nach ihrem Tod errichtete er deshalb eine Stiftung für hilfsbedürftige Wöchnerinnen. Dazu schenkte er der Stadt einen Garten auf dem Bögen, verbunden mit der Auflage, die Mieteinnahmen aus dem Garten jährlich einer armen Schwangeren aus der Stadt auszuzahlen, und zwar jeweils abwechselnd einer Protestantin und einer Katholikin. Der im Volksmund sogenannte Hebammengarten an der heutigen Fokkestraße. Durch einen Grundstückstausch gab die Stadt den selbst Garten zwar aus der Hand, die Fokkestiftung existiert aber noch heute.
Über die Lingener Hebammen und weitere Frauen der Lingener Geschichte berichtet am 4. September, 15:00 Uhr der erste von vier "Herbstvorträgen des Stadtarchivs" in Lingen.
Quellen und Literatur