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Archivalie – August 2024

Vom Bürgermeisterhaus zur Kunst- und Kulturvilla
Das Bild zeigt ein Relief des Wappens der Stadt Lingen - die drei Stadttore flankiert von zwei Löwen - über der Eingangstür der Bürgermeistervilla.
Die schwarz-weiß Fotografie zeigt eine Gruppe von Menschen, darunter sechs Männer und zwei Frauen, die auf einer Treppe vor dem Eingang des Bürgermeisterhauses stehen.
Das Bild zeigt eine alte Zeichnung der Villa Lühn aus November 1923. Darauf steht
Das Bild zeigt eine alte Zeichnung der Villa Lühn aus November 1923. Darauf steht

Die Geschichte des Lingener Bürgermeisterhauses beginnt ausgerechnet im Krisenjahr 1923. Anfang des Jahres setzte eine Hyperinflation ein, in deren Folge weite Teile der Wirtschaft zusammenbrachen. Erst mit der Einführung der Rentenmark am 15. November konnte die Inflation wieder eingedämmt werden. Neben der Arbeitslosigkeit war die Wohnungsnot das beherrschende soziale Problem der Zeit. In dieser Situation beschlossen die städtischen Kollegien Anfang November 1923 den Bau einer Dienstwohnung für den Bürgermeister mit geschätzten Kosten von 15.000 Goldmark. So solle verhindert werden, dass angesichts mehrerer bald abgeschlossener Bauprojekte die Bauhandwerker erwerbslos würden, und ohnehin war der Bau einer solchen Dienstwohnung schon seit langem geplant. Es ist das vorläufig letzte repräsentative Wohngebäude dieser Jahre.

Der aus Dernbach stammende Bürgermeister Hermann Gilles war 1909 zunächst als Polizeikommissar nach Lingen gekommen. 1919 aber hatte der auf Lebenszeit gewählte Bürgermeister Meyer sein Amt niedergelegt, sein Nachfolger Kühne scheiterte nach wenigen Monaten am Widerstand des Zentrums. Und so hatte Gilles, selbst Mitglied der Zentrumspartei, 1921 das Bürgermeisteramt übernommen, und zwar – trotz einer wenig später erfolgten Gesetzesänderung – erneut auf Lebenszeit. Altbürgermeister Meyer wohnte weiterhin in seinem repräsentativen Haus in der Lookenstraße 45. Kühne war zunächst im Hotel Heeger untergekommen, wohnte dann kurzzeitig An der Kuhweide und verließ Lingen bald wieder. Die Familie Gilles hatte zuvor schon in der Bauerntanzstraße und der Rheinerstraße gewohnt. Wenige Monate nach Amtsantritt zog sie in das Haus Markt 19, wo Goldbach ein Ladenlokal unterhielt. Nun also sollte sie ein eigenes Wohnhaus bekommen.

Als Architekten verpflichtete die Stadt den Lingener Baumeister Hans Lühn, der unter anderem schon für die Städtische Turnhalle (1912/13) und den nach einem Brand 1922 wiederaufgebauten Böhmerhof verantwortlich gezeichnet hatte – und für das Haus Markt 19 (1911/12), in dem Gilles aktuell noch wohnte. Lühn orientierte sich an dem klassizistisch gestalteten Wohnhaus seines ehemaligen Lehrers Professor Ostendorf in Karlsruhe. So entstand die Idee eines stattlichen zweigeschossigen Gebäudes mit Walmdach. Die Maße: 14,26 Meter lang, 10,01 Meter breit und 8,10 Meter hoch. Über mehrere Stufen sollte man zum von zwei Säulen umrahmten Eingangsportal gelangen. Und über der Haustür prangte das Stadtwappen mit den drei Türmen und zwei Löwen als Schildhalter.

Noch im November 1923 legte Lühn die Pläne für den Neubau vor. Der Lingener Bauingeneur Ziegler steuerte die Statikberechnung für die geplante Eisenbetondecke bei. Und im Januar 1924 erfolgte die baupolizeiliche Prüfung der eingereichten Unterlagen. Am 2. Februar schließlich wurde die Bauerlaubnis erteilt – und zwar von Gilles selbst, der sich damit de facto seine eigene Dienstwohnung genehmigte. Damit konnten die Bauarbeiten beginnen. Hans Lühn übernahm die Bauleitung, Bauherr war – im Namen des Magistrats – Bürgermeister Gilles. Das Gebäude an der Wilhelmstraße erhielt schließlich die Hausnummer 49. Im März 1925 war das Gebäude soweit fertiggestellt, dass Bezirksschornsteinmeister Flohr die Schornsteine prüfen konnte. Im Oktober 1925 schließlich zogen Gilles, seine Frau Ottilie und ihr 18jähriger Sohn ein. Sie wohnten zur Miete, das Haus war Eigentum der Stadt.

Nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten startete die Lingener NSDAP eine Hetzkampagne gegen Gilles. Sie warf ihm Unterschlagung und Korruption vor. Im Mai 1933 entzog ihm das Kollegium das Vertrauen, zwei Monate später wurde – zunächst nur kommissarisch – der 24jährige Studienabbrecher Erich Plesse (NSDAP) zum Bürgermeister ernannt. Schon seit Jahren herzkrank, bat Gilles darum, zu November in den Ruhestand versetzt zu werden. Im selben Monat zog das Ehepaar nach Hilden bei Düsseldorf, wo Gilles 1935 starb.

Im Mai 1934 wurde Plesse offiziell zum Bürgermeister ernannt. Das Bürgermeisterhaus vermietete er jedoch zunächst an den Standortältesten der Wehrmacht Major Hubert Lütkenhaus und seine Frau Josefine geb. Friedhoff. Erst im Januar 1937 zog er selbst ein, im Februar  heiratete er Erika Hackmann, die nun ebenfalls einzog. Im April 1941 wurde Plesse zum Wehrdienst eingezogen und hielt sich seitdem nur noch sporadisch in Lingen auf. Seit Anfang 1945 galt Plesse als verschollen. Plesses Eltern zogen nach einem Verwandtenbesuch in Posen im Januar 1945 bei ihrer Schwiegertochter ein, im Februar gesellte sich auch die Posener Verwandtschaft hinzu. Doch das war nur vorübergehend.

Anfang April 1945 wurde Lingen von britischen Truppen eingenommen. Als Dienstwohnung wurde das Haus nun nicht mehr genutzt. Weder der von den Briten ernannte Bürgermeister Brackmann noch sein 1946 gewählter Nachfolger Landzettel wohnten hier. Tatsächlich dürfte das Haus von der Britischen Militärregierung beschlagnahmt worden sein.

In den 1950er Jahren waren hier das Rechtsamt, das Ordnungsamt, das Meldeamt und die Wohnraumbewirtschaftung untergebracht. Außerdem vermietete die Stadt einige Räume. Nach Errichtung des Neuen Rathauses 1966 war die dezentrale Unterbringung der Ämter nicht mehr erforderlich. Die Stadt ließ das ehemalige Bürgermeisterhaus nun aufwändig renovieren, und im Mai 1968 richtete die Musikschule des Emslandes hier eine Bezirksstelle ein. Schließlich siedelte die Musikschule vollständig in den 1991/92 errichteten Nebenbau um. 2021 wurde mit der erneuten Renovierung der Villa begonnen. Mitte Juli 2024 hat nun das Kulturamt die Räume bezogen. Auf die bisherigen Bezeichnungen für das Gebäude – „Bürgermeisterhaus“, „Villa Lühn“ oder schlicht „Musikschule“ – folgt nun eine neue: „Kunst- und Kulturvilla“.

Quellen und Literatur

  • StadtA LIN, Allg. Slg., Nr. 1230.
  • StadtA LIN, Altes Archiv, Nr. 6175, Nr. 6387.
  • StadtA LIN, Karten und Pläne, Nr. 168, Nr. 374.
  • StadtA LIN, Kultur, Nr. 182.
  • StadtA LIN, Lingener Tagespost vom 23.2. und 29.11.2021.
  • StadtA LIN, Lingener Volksbote vom 7.11.1923.
  • StadtA LIN, Melderegister.
  • StadtA LIN, Stadt Lingen, Nr. 290.
  • Adressbücher der Stadt Lingen.
  • Arbeiten des Architekten Hans Lühn B.D.A. Lingen-Ems, Düsseldorf 1931.
  • Eiynck, Andreas: Der Baumeister Hans Lühn. Ein Architekt des Norddeutschen Backsteinexpressionismus, in: Jahrbuch des Emsländischen Heimatbundes 60 (2014),  S. 143-164.
  •  Köster, Baldur: Lingen. Architektur im Wandel. Von der Festung zur Bürger- und Universitätsstadt bis zur Industriestadt (bis um 1930), München 1988.
  •  Lensing, Helmut: Art. „Gilles, Hermann“, in: Emsländische Geschichte 8 (2000), S. 196-199.
  • Lensing, Helmut: Der Lingener Kreisleiter und Bürgermeister Erich Plesse. Eine politische Karriere während der NS-Zeit, in: Emsländische Geschichte 28 (2021), S. 300-380.

Quellen und Literatur

  • NLA OS, Rep 980, Nr. 13448 und Nr. 14455.
  • StadtA LIN, Fotosammlung, Nr. 2301.
  • StadtA LIN, Fotoserien, Nr. 1001/279.
  • StadtA LIN, Karten und Pläne, Nr. 50.
  • StadtA LIN, Sammlung Schulchroniken, Nr. 37.
  • Eiynck, Andreas: Siedlungsentwicklung und Kulturlandschaft. Dörfer im südlichen Emsland und angrenzenden Orten in der Grafschaft Bentheim, Lingen 2014.
  • Haus der Vereine e.V. Clusorth-Bramhar (Hg.): Hof- und Heuerstellen in Clusorth-Bramhar, Werlte 2017.
  • Schriever, Ludwig: Geschichte des Kreises Lingen, Lingen a.d. Ems 1905/1910.
  • Schützenverein Clusorth-Bramhar/ Bramhar-Meppen (Hg.): 300 Jahre Schützenverein Clusorth-Bramhar und Bramhar-Meppen 1697-1997, Werlte 1997.
  • Taubken, Hans: Die Beschrivinge der Niedergrafschaft Lingen. Ein landesherrliches Einkünfteverzeichnis aus den Jahren 1555 bis 1592 (Quellen und Forschungen zur Lingener Geschichte 2), Bielefeld 1999.
  • Tenfelde, Walter: Zur Geschichte des Kirchspiels Bawinkel, Lingen (Ems) 1982.


Artikeldatum: 1. August 2024
Fotos v.o.n.u.: k.A., k.A., k.A., k.A., k.A., k.A.