Lingen stieß bereits Ende der 1950er Jahre an die Grenze seiner Siedlungskapazitäten. Insbesondere größere Bauprojekte waren kaum noch zu realisieren. Eine Lösung des Problems konnte praktisch nur durch Eingemeindungen geschehen. Doch die waren bei den umliegenden Gemeinden hochgradig umstritten. Erstmals in die Offensive ging man, als im Oktober 1957 bei einer Pressekonferenz auf der Wilhelmshöhe über die schwierigen Entwicklungsaussichten der Stadt diskutiert wurde. Einer der Teilnehmenden, der ehemalige Pressedezernent der Regierung Dr. Hugle, kam in seinem später veröffentlichten Gutachten zu der schlichten Erkenntnis: „Das Areal der Stadt Lingen (Ems) ist zu klein!“ Konkrete Folgen hatte sein Gutachten nicht.
Mitte der 1960er Jahre setzte dann die bundesweite Diskussion um eine Gebietsreform ein. Die vom Land Niedersachsen in Auftrag gegebene, aber heftig umstrittene Prognos-Studie forderte 1967 Industrialisierungsschwerpunkte unter anderem in Papenburg und Lingen. Das Landesraumordnungsprogramm nannte 1969 Nordhorn als Mittelzentrum und Lingen, Meppen und Papenburg als zu Mittelzentren zu entwickelnde Grundzentren, was in den anderen Gemeinden zu erheblichen Protesten führte. Unter Kritik stand auch das im selben Jahr veröffentlichte Gutachten der Weber-Kommission, die forderte, zunächst eine Gemeindereform zur Bildung größerer Gemeinden und anschließend eine Kreisreform durchzuführen.
Im Februar 1968 unterstrich der Kommissionsvorsitzende Weber persönlich bei einem Vortrag im Ludwig-Windthorst-Haus die Notwendigkeit von Eingemeindungen. Lingen suchte derweil aktiv die Zusammenarbeit mit den Nachbarn. Noch im selben Monat konstituierte sich die AG Lingen – Umland, das den teilnehmenden Gemeinden eine Diskussionsplattform für gemeinsame Interessen und Projekte bieten sollte. Zu den Gründungsmitgliedern Lingen, Altenlingen, Biene, Brockhausen, Brögbern, Darme, Holthausen, Laxten, Schepsdorf/Lohne und Wachendorf stießen später auch Baccum, Ramsel, Münnigbüren, Bramsche, Estringen, Hüvede-Sommeringen und Mundersum. Insgesamt blieben die Erfolge der AG bescheiden, doch immerhin standen ihre Mitglieder nun in regelmäßigem Kontakt. Die Einstufung Lingens als Bundesausbauort im April 1968 schuf einen zusätzlichen Anreiz zum Zusammenschluss. Lingen konnte nun erhebliche Fördergelder abrufen, hatte für Förderprojekte aber überhaupt keinen Platz. Die umliegenden Gemeinden hatten den Platz, konnten aber natürlich die Gelder nicht abrufen.
Im August 1968 verhandelten die Verwaltungsausschüsse von Darme und Lingen erstmals über einen Zusammenschluss. Trotz anfänglicher Bedenken stimmte der Gemeinderat Darme am 26. Februar 1969 dem Vertrag einstimmig zu. Einen Tag später gab auch der Lingener Stadtrat in feierlicher Sitzung geschlossen seine Zustimmung. Noch während der Verhandlungen mit Darme trat Lingen im November 1968 in erste vorsichtige Gespräche mit Laxten. Laxten bildete mit Brockhausen seit 1965 eine Samtgemeinde, und so beteiligte sich auch Brockhausen an den Verhandlungen. Am 13. März 1969 entschied sich der Laxtener Rat einhellig für den Zusammenschluss. Brockhausen hatte bereits am 10. März seine Zustimmung gegeben. Am 17. März folgte eine gemeinsame feierliche Sitzung der Räte von Lingen, Darme, Laxten und Brockhausen. In Anwesenheit von Regierungspräsident Suermann stimmte der Lingener Rat nun ebenfalls dem Zusammenschluss mit Laxten und Brockhausen zu. In den entsprechenden Verträgen wurde unter anderem festgelegt, daß die Gemeinderäte nicht aufgelöst, sondern als Ortsräte – zunächst befristet auf zehn Jahre – fortbestehen sollten. Im November 1969 stimmte der Niedersächsische Landtag dem freiwilligen Zusammenschluss zu, und so konnte er am 1. Januar 1970 in Kraft treten.
1971 wurden auch mit den Samtgemeinden Bramsche und Baccum Gespräche über einen Zusammenschluss aufgenommen. Die Samtgemeinde Bramsche hatte sich erst kürzlich aus den Gemeinden Bramsche-Wesel, Estringen, Hüvede-Sommeringen und Mundersum zusammengeschlossen, die Samtgemeinde Baccum aus den Gemeinden Baccum, Münnigbüren und Ramsel. Nach einstimmigen Beschlüssen wurde noch im selben Jahr mit Bramsche (28. Juli) und Baccum (16. Dezember) je ein gemeinsamer Gebietsänderungsvertrag unterschrieben. Man orientierte sich an den vorangegangenen Zusammenschlüssen. So sollten auch in Bramsche und Baccum Ortsräte eingerichtet werden. Beide Verträge sollten zum 1. Juli 1972 in Kraft treten, wurden dann aber von der allgemeinen Entwicklung eingeholt. So erfolgte der Zusammenschluss mit den beiden Samtgemeinden erst zum 1. März 1974.
Auf Seiten der umliegenden Gemeinden bestanden allerdings auch erhebliche Vorbehalte gegen einen Zusammenschluss. Immer wieder wurde der Vorwurf laut, das hoch verschuldete Lingen wolle mit den finanziell bessergestellten Gemeinden lediglich seine Finanzen sanieren. Auch die in Lingen höheren Steuersätze bereiteten Sorgen. Und schließlich befürchtete man, durch den Verlust der Selbständigkeit eigene Interessen nicht mehr durchsetzen zu können und so entwicklungstechnisch ins Abseits zu geraten. Unter den Kritikern nahm die Gemeinde Holthausen, die angesichts hoher Einnahmen aus der Raffinerie wenig zu gewinnen und viel zu verlieren hatte, eine Führungsposition ein. Während sich Lingen für eine Eingemeindung auch der nördlichen Nachbargemeinden einsetzte, plädierten diese für die Bildung einer eigenständigen „Nordgemeinde“ mit dem Schwerpunkt Holthausen. Im Juni 1969 trafen sich Holthausen, Biene, Brögbern, Bawinkel, Clusorth-Bramhar, Duisenburg und Plankorth zu ersten Gesprächen, und auch Altenlingen zeigte Interesse. Der Landkreis Lingen unterstützte das Vorhaben, die Stadt Lingen lehnte es jedoch entschieden ab und auch die Bezirksregierung Osnabrück blieb skeptisch.
Stadt und Kreis Lingen beauftragten derweil die Freie Planungsgruppe Berlin (FPB) mit der Erstellung eines Gutachtens über die Herausbildung eines Schwerpunktraumes Lingen. Als es im November 1970 vorgestellt wurde, löste es in der AG Lingen-Umland heftigen Widerspruch aus. Schepsdorf-Lohne, das eine Eingemeindung nach Lingen ebenfalls strikt ablehnte, kritisierte, das FPB-Gutachten wolle das Lingener Umland aufteilen „wie Deutschland nach dem letzten Weltkrieg“. Die nördlichen Gemeinden bestellten nun ihrerseits zwei Gutachten, um die Möglichkeiten einer Großgemeinde Holthausen zu prüfen. Die 1971 und 1972 veröffentlichten Gutachten kamen zu dem Schluss, dass eine solche Nordgemeinde mit den Vorgaben der Weberkommission durchaus knapp vereinbar sei, der Anschluss an Lingen hingegen nicht gemeinwohlkonform und sogar verfassungswidrig wäre.
Der weitere Weg zur 1974 durchgeführten Gemeindereform ist Thema der nächsten „Archivalie des Monats“.
Quellen und Literatur
Vehring, Karl-Heinz: Lingen. Zentrum einer Region. Strukturwandel und Modernisierung, Düsseldorf und Lingen 2013