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Archivalie – März 2025

Die serbisch-orthodoxe Gemeinde in Lingen
Die serbisch-orthodoxe Kirche zu Ehren des hl. Erzengels Michael an der Ecke Ludwigstraße/ Heinrichstraße.
Der Leiter des städtischen Sozialamts Friedrich Rohlinger (rechts) zu Besuch bei einer jugoslawischen Familie.
Totengedenken auf dem Neuen Friedhof durch Pastor Cilerdzic (rechts) und zwei weitere orthodoxe Geistliche für den 1976 verstorbenen langjährigen Küster und Kirchenverwalter Zivan Milisavljevic.
Verwandtentreffen in der Heinrichstraße. An der Wand links ein Bild des im Exil lebenden jugoslawischen Königs Peter II. mit dem serbischen Doppeladler.

Die wechselvolle Geschichte Lingens brachte es mit sich, dass seit Jahrhunderten in der Stadt drei christliche Konfessionen nebeneinander vertreten sind: Katholiken, Lutheraner und Reformierte. Ihre Kirchen sind noch heute markante Punkte im Stadtbild. Weithin unbekannt ist, dass es seit der Mitte des vorigen Jahrhunderts in Lingen auch eine Kirche für orthodoxe Christen gibt.

Über ein Jahrzehnt lang wurden die ehemaligen Wehrmachtskasernen in Reuschberge nach dem Zweiten Weltkrieg vorwiegend als Lager für heimatlose Ausländer, sogenannte Displaced Persons, genutzt. Es handelte sich dabei um Menschen, die als Zwangsarbeiter oder Kriegsgefangene nach Deutschland verschleppt worden waren, wegen der politischen Entwicklung in Ost- und Südosteuropa aber nicht mehr in ihre Herkunftsländer zurückkehren konnten oder wollten.

Ab 1948 zogen vor allem Menschen aus Jugoslawien und den ehemaligen baltischen Staaten Estland, Lettland und Litauen in die Kasernen ein. Ihre Zahl wechselte stark. Zeitweilig wohnten bis zu 1500 Ausländer im Lager. Vielen gelang von Lingen aus die Auswanderung in die USA, manche zogen auch von Lingen weg in andere deutsche Städte.

Die Lagerbewohner waren kulturell und politisch sehr aktiv. Es gab ein estnisches und jugoslawisches Gymnasium und drei Volksschulen. Die monarchistisch orientierte Redaktion der größten jugoslawischen Emigrantenzeitung mit Namen „Iskra“ (Funke) hatte in den Kasernen ihren Sitz – sehr zum Leidwesen der kommunistischen Regierung in Belgrad, denn immer wieder wurde versucht, dieses Blatt illegal ins Land zu schmuggeln.

In den ersten Nachkriegsjahren stand das Lager unter Obhut der IRO, der Internationalen Flüchtlingsorganisation der UNO. Mit dem 1. Juli 1950 ging die Zuständigkeit auf die Stadt Lingen über. Das bislang exterritoriale Lager wurde „eingemeindet“, die Bewohner vom Einwohnermeldeamt als Neubürger erfasst. Um die Alten und Kranken kümmerte sich fortan das städtische Sozialamt, die übrigen wurden dem Arbeitsamt zugeteilt. 1954 wohnten noch 387 Displaced Persons im Lager.

Eine völlig neue Situation ergab sich, als nach Gründung der Bundeswehr Lingen 1956 wieder Garnisonstandort wurde und Soldaten dort untergebracht werden sollten. Für die letzten noch im Lager wohnenden Displaced Persons musste eine neue Bleibe geschaffen werden.

Dies geschah 1957 im Rahmen des „Bauprogramms für Kasernenverdrängte und Vertriebene“ des Bundes. Zwischen Georgstraße und Ludwigstraße wurden von der Vereinigten Wohnungsbau- u. Bauhilfe GmbH Osnabrück sieben Mehrfamilienhäuser mit insgesamt 111 Wohneinheiten unterschiedlicher Größe erstellt. In die neuen geräumigen Wohnungen zogen viele der Displaced Persons, gerne aber auch deutsche Familien ein. Ein Ausländerghetto wurde dadurch vermieden.

Laut Lagerkartei waren die in den Kasernen wohnenden Jugoslawen überwiegend orthodoxe Christen. Seit 1954 wurden sie von dem jungen Priester Cilerdzic betreut. Ihre Gottesdienste feierten sie in einer ehemaligen Panzerhalle, deren Inneres kirchenähnlich umgestaltet worden war.

Nach dem Umzug in die neuen Wohnungen fehlte den etwa 40 orthodoxen Gläubigen ein Raum für ihre Gottesdienste. Inwieweit dazu Gespräche zwischen den Jugoslawen und der Wohnungsbaufirma stattfanden, lässt sich nicht mehr feststellen. Aktenkundig ist jedenfalls, dass der bauleitende Architekt Karl Schellmann aus Lingen am 30. September 1957 für den Bauträger einen Plan für ein kleines eingeschossiges Gebäude für die orthodoxe Gemeinde erstellte. In den folgenden Wochen scheinen dazu Gespräche mit dem Regierungspräsidium in Osnabrück stattgefunden zu haben. Ein Antrag auf ein Darlehen wurde eingereicht.

Man war sich aber nicht einig, welchen Charakter das Gebäude haben sollte. Der Regierungspräsident und auch die Landesregierung in Hannover sprechen in ihren Schreiben von einer Kirche oder einem Gottesdienstraum. Das städtische Bauamt und das Staatshochbauamt in Lingen vermeiden diesen Begriff, haben Bedenken, den Bau zu genehmigen, und tendieren eher zur Bezeichnung Garage. So vergeht bis zur endgültigen Erteilung eines Bauscheins fast ein halbes Jahr.

Am 2. November teilte das Staatshochbauamt der Stadt Lingen mit, dass die Statik für das geplante Gebäude überprüft worden sei und dass die Baugenehmigung für das „Garagengebäude“ erteilt werden könne. Vom Bundesfinanzministerium kam am 21. November die Zusage für ein Bundesdarlehen über bis zu 12.000 DM. Am 5. Dezember reichte Architekt Schellman beim Stadtbauamt den Bauantrag ein für die „Errichtung eines Gebäudes mit 3 Garagen (wird vorübergehend verwendet für einen Versammlungsraum für orthodoxe Gläubige)“.

Das Bauamt der Stadt Lingen hatte jedoch Bedenken. Es monierte unter anderem, dass das Gebäude nur eingeschossig sei, während der Bebauungsplan für dieses Gebiet dreigeschossige Gebäude vorsehe. Der Architekt solle daher einen Bauantrag für eine Garage mit vorläufiger Nutzung als Versammlungsraum stellen. Das Staatshochbauamt teilte die Einwände des städtischen Bauamts und schlug vor, die Zustimmung des Regierungspräsidenten einzuholen.

Als die Stadt dem Regierungspräsidenten die Situation schilderte, hatte dieser keine Einwendungen für eine Baugenehmigung. Er regte jedoch an, „das Garagengebäude mit dem vorhandenen dreigeschossigen Wohnhaus durch einen leichten und niedrig gehaltenen Zwischenbau“ zu verbinden. Nach Klärung weiterer Details genehmigte das Lingener Bauamt schließlich am 24. März 1958 den Bau einer Garage. Und zwar ohne besondere Auflagen.

Im Herbst 1958 war das Gebäude fertig und mit dem für eine orthodoxe Kirche üblichen Inventar ausgestattet. Am Sonntag, 17. November, fand in Anwesenheit von Vertretern der Stadt und des Kreises Lingen und zahlreicher Gäste aus Münster, Osnabrück, Nordhorn und den Niederlanden die Weihe statt. Den Ritus vollzogen Bischof Philotheus aus Hamburg und Bischofsvikar Jovanovic aus Bielefeld.

Pastor Cilerdzic hielt die Festpredigt. Er nannte die Weihe der Kirche einen Tag der Freude für die Gemeinde. Die Kirche sei Freude und Hoffnung, sie sei „Heimat für die Heimatlosen“. Er dankte für die mannigfache Unterstützung, die der Kirchengemeinde für die Vollendung der Kirche zuteil geworden sei: „dem Land Niedersachsen, das überhaupt erst die Möglichkeit zur Errichtung einer Kirche geschaffen habe, und der Stadt Lingen, die hierbei vermittelt und durch Gewährung einer Beihilfe selbst zur Durchführung des Bauvorhabens beigetragen habe“. Als Spender nannte er weiter die evangelisch-lutherische Kirchengemeinde und die Kreissparkasse Lingen.

Das kleine Gotteshaus ist zehn mal sechs Meter groß und durch einen Anbau mit dem benachbarten Mehrfamilienhaus Heinrichstraße 1 verbunden. Lange Zeit sah es einer Garage ähnlicher als einer Kirche. Dass es sich um ein religiöses Gebäude handelt, darüber informiert die Inschrift an der Ostseite: „Serbisch-Orthodoxe Kirche d. hl. Erzengel Michael“.

Anfangs befand sich die Kirche im Besitz der Wohnungsbaufirma aus Osnabrück. Später wurde die orthodoxe Gemeinde durch Kauf Eigentümer. Vor einigen Jahren erhielt die Kirche einen kleinen Dachreiter mit einer Glocke und einem großen golden glänzenden Kreuz. Außerdem ist die südliche Längsseite heute mit religiösen Symbolen geschmückt.

Die anfänglich kleine Gemeinde wuchs, als seit 1968 Gastarbeiter aus Jugoslawien nach Deutschland kamen. Die Zahl der Mitglieder nahm außerdem ab 1991 infolge des Jugoslawienkrieges zu. Betreut wird die Gemeinde vom Pfarrer der serbisch-orthodoxen Gemeinde Osnabrück. Er feiert jeden zweiten Samstag im Monat in Lingen Gottesdienst. Seit etwa zwei Jahrzehnten trifft sich als Gast auch die russisch-orthodoxe Gemeinde Lingen dort zwei Mal im Monat zum Gottesdienst.

Quellen und Literatur

  • Lingener Tagespost vom 22.11.1958, Emsland-Rundschau vom 24./25.12.1966.
  • StdA Lingen, Allg. Slg 1047, Fotoserien Nr. 774, Fotosammlung Nr. 4405, 21605, Stadt Lingen 14.
  • Archivalie des Monats April 2021: Displaced Persons.
  • Adressbuch für Stadt und Kreis Lingen, Ausgabe 1955.
  • Verena Schwering, Das Displaced-Persons-Camp in den ehemaligen Wehrmachtskasernen in Lingen-Reuschberge, (Lingen) 1990. Manuskript masch. (Schülerarbeit für den „Wettbewerb des Niedersächsischen Landtags für politische Bildung“).


Artikeldatum: 18. März 2025
Fotos v.o.n.u.: © Stadtarchiv Lingen , © Stadtarchiv Lingen, © Stadtarchiv Lingen, © Stadtarchiv Lingen