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Archivalie – Februar 2021

Die Kasernen in Reuschberge

Stabsgebäude und Eingang zur Walter-Flex-Kaserne

Ein wesentlicher Bestandteil nationalsozialistischer Politik war die letztlich kriegsvorbereitende Aufrüstung der Wehrmacht. Im ganzen Reich wurden in bislang ungekannter Größenordnung neue Militärbauten errichtet. Nachdem das Reichswehrministerium beschlossen hatte, Lingen bis Oktober 1935 mit einem Infanteriebattaillon und einer Artillerieabteilung zu belegen, schlossen Stadt und Heeresverwaltung im Mai 1934 einen Garnisonsvertrag. Die Stadt verpflichtete sich dabei zur Übergabe von 21 Hektar Land in Reuschberge. Rund drei Viertel des Landes befand sich allerdings gar nicht in städtischen Besitz. Die Stadt musste es erst von dem durchaus nicht verkaufsbereiten Grafen Emanuel von Galen erwerben – und verstieß damit prompt gegen ein entsprechendes Verbot des preußischen Innenministeriums. Das Gelände gehörte ursprünglich zur Gemeinde Darme. Erst mit der Erwerbung durch die Stadt wurde es nach Lingen eingemeindet. Im August begannen die Bauplanungen. Täglich waren bis zu 500 Arbeiter an den Bauarbeiten beschäftigt. Viele Lingener Handwerksbetriebe beteiligten sich, aber auch Arbeitslose wurden herangezogen. So konnte man im März 1935 Richtfest feiern.

Das 1. Bataillon des Infanterie-Regiments Nr. 37 (Osnabrück) unter dem Kommando von Major Lütkenhaus war bereits im Oktober 1934 in der Stadt eingetroffen. Es musste in Behelftsunterkünften untergebracht werden und siedelte erst später auf das Kasernengelände über. Tatsächlich handelte es sich um zwei lediglich durch einen Drahtzaun voneinander getrennte Kasernen. Das Infanterie-Bataillon übernahm die Walter-Flex-Kaserne, benannt nach dem völkisch-nationalistischen Kriegsdichter Flex. Die 1. Abteilung des Artillerieregiments Nr. 6 (Minden) unter Major Hünermann bezog am 3. Oktober 1935 – dem Tage der offiziellen Einweihung – die Scharnhorstkaserne, benannt nach dem preußischen Heeresreformer Gerhard von Scharnhorst. Als die Artillerieabteilung mit Geschützen und Pferden am Lingener Bahnhof ankam, war die Stadt festlich geschmückt. Feierlich wurde sie auf dem Marktplatz empfangen, danach erfolgte auf dem Exerzierplatz der Walter-Flex-Kaserne die Schlüsselübergabe. Kaum einen Monat später wurden infolge der Wiedereinführung der Wehrpflicht auf dem Marktplatz die ersten Rekruten vereidigt. Es sollte ein bald regelmäßiges Ritual werden.

Die Bauarbeiten gingen unterdessen weiter und wurden – unter anderem mit der Errichtung einer Militärbadeanstalt – erst 1938 abgeschlossen. Die Stadt hatte inzwischen bemerkt, dass sie sich in eine missliche Lage manövriert hatte. Denn während sie sich im Garnisonsvertrag verpflichtet hatte, das Gelände frei von Rechten Dritter zu übergeben, hatte sie dem Grafen von Galen dort Wegerechte zugesichert. Dadurch verzögerte sich die Übergabe. Graf von Galen war noch nicht ausbezahlt, als das Gelände längst bebaut war, und die Standortverwaltung musste die Stadt wiederholt auffordern, ihnen das Gelände endlich zu übereignen. Die Wehrmacht bemühte sich derweil um Bürgernähe. Alljährlich wurden ein „Tag der Wehrmacht“ und ein Militärsportfest durchgeführt, zu Standortübungen wurde die Bevölkerung eingeladen, und die Militärbadeanstalt durfte auch von Lingener Sportvereinen genutzt werden.

Der Zweite Weltkrieg begann am 1. September 1939. Unter einem Vorwand überfiel Deutschland Polen. Während das deutsche Ziel von Anfang an die gewaltsame Errichtung eines Großreiches war, sah Lingens NS-Bürgermeister Plesse die Kriegsschuld vielmehr bei den „Plutokratien des Westens“. Auch in Lingen stellten sich die ersten Reservisten bereits am 26. August. Die Mobilmachung wurde nicht öffentlich bekannt gegeben, die Einberufungsbefehle wurden den Wehrpflichtigen von der HJ und der Post zugestellt. Bald waren die Kasernen überfüllt, und es herrschte ein ständiges Kommen und Gehen. Auch die Schulen und Säle der Stadt waren mit neu aufgestellten Einheiten belegt. Schließlich zogen rund 3000 Mann des Infanterieregiments 37 von Lingen aus zum Westwall. Darunter war auch das inzwischen von Oberstleutnant Hennicke kommandierte, in Lingen ansässige 1. Bataillon. Das Bataillon war zunächst in Frankreich und Belgien im Einsatz, dann ab 1941 in Ostpreußen. Das 37. Regiment wurde im Juni 1944 zerschlagen. Denselben Weg nach Westen nahm auch die Lingener Artillerieabteilung. Später nahm sie im Osten am Unternehmen „Barbarossa“ teil, wo sie im Juni 1944 ebenfalls vernichtet wurde. In Lingen verblieben lediglich einige Ausbildungseinheiten. Bald erreichten die ersten Gefallenenmeldungen die Heimat. Schülerinnen berichteten immer wieder von gefallenen Brüdern und Vätern. Oberstleutnant Hennickes Frau war als Lehrerin in der Höheren Mädchenschule beschäftigt. Im September 1941 berichtete sie dort voller Freude, ihr Mann habe soeben das Ritterkreuz verliehen bekommen. Erst einige Tage später erfuhr sie, dass er zu diesem Zeitpunkt längst tot war.

Zur Abwehr der vorrückenden Westalliierten sollte 1944 die sogenannte Emsstellung errichtet werden, ein weitläufiges System von Panzergräben westlich der Ems. Ein Teil der Emsstellung wurde im Raum Elbergen tatsächlich realisiert. Vor allem niederländische Zwangsarbeiter kamen dabei zum Einsatz. Für ihre nur dürftige Ernährung zeichneten zum Teil auch die beiden Lingener Kasernen verantwortlich. Im selben Jahr wurde Lingen von zwei schweren Luftangriffen getroffen. Mehrere hundert Soldaten der beiden Kasernen beteiligten sich nachher an den Aufräum- und Bergungsarbeiten. Anfang April 1945 wurde Lingen von britischen Truppen erobert. Im Vorfeld waren die Kasernen von den Deutschen eilig geräumt worden. So konnten die Engländer die Kasernen bald besetzen. Sie hatten sie zunächst irrtümlich für eine Kläranlage gehalten.

Quellen und Literatur

  • Stadtarchiv Lingen, Allgemeine Sammlung, Nr. 879, Nr. 1084
  • Stadtarchiv Lingen, Fotosammlung.
  • Stadtarchiv Lingen, Sammlung Schulchroniken, Nr. 42, Nr. 43, Nr. 57.
  • Bojer, Reinhard: Sag mir, wo die Gräber sind… Kriegserinnerungen aus Darme, Lingen 2002.
  • Höing, Hubert: Systematischer Überblick über die Geschichte der Stadt, in: Ehbrecht, Wilfried (Hg.): Lingen 975-1975. Zur Genese eines Stadtprofils, Lingen (Ems) 1975, S. 250-268.
  • Lensing, Helmut: Das Wirken des Grafen Emanuel von Galen im Emsland während der Weimarer Republik und der NS-Zeit, in: Emsländische Geschichte 14 (2007) , S. 94-169.
  • Lensing, Helmut: Der Zweite Weltkrieg in der Grafschaft Bentheim und im Lingener Land. Heimat und Front im Spiegel der Kriegsbriefe der Grafschafter und Lingener NSDAP, in: Emsländische Geschichte 17, S. 449-541.
  • Remling, Ludwig (Hg.): Das Kriegsende 1945 im Raum Lingen (Materialien zur Lingener Geschichte 3), Lingen 1996.
  • Remling, Ludwig: Der Kampf um Lingen Anfang April 1945, in: Emsländische Geschichte 22 (2015), S. 186-211.
  • Trepkowski, Ralf: Wehrmachtseinheiten in Lingen 1933-1945 (Examensarbeit), Münster o.J.


Artikeldatum: 2. Februar 2021
Fotos v.o.n.u.: Stadtarchiv, Stadtarchiv